Morton, Kate
während
sie eine innere Debatte zu führen schien. Ich weiß nicht, ob sie gewann oder
verlor, aber schließlich nahm sie den Verschluss von der Flasche und schenkte
uns beiden noch einmal ein.
»Ich habe
etwas gefunden«, sagte sie. »Ist schon ein paar Jahre her. Nachdem meine
Mutter gestorben war und ich mich um ihre Angelegenheiten gekümmert habe.«
Der Whisky
pulsierte warm in meiner Kehle. »Und was haben Sie gefunden?«
»Liebesbriefe.«
»Ach.«
»Aber nicht von meinem Vater.« »O,
lá, lá.«
»Versteckt
in einer Blechdose hinten in der Schublade ihrer Frisierkommode. Ich hätte sie
um ein Haar übersehen. Doch als ein Antiquitätenhändler kam, um sich ein paar
Möbel anzuschauen, habe ich ihm die Sachen gezeigt. Erst dachte ich, die
Schublade klemmt, habe noch einmal mit einem Ruck gezogen, vielleicht fester
als nötig, und dabei ist die Dose zum Vorschein gekommen.«
»Und haben
Sie die Briefe gelesen?«
»Später
habe ich die Dose geöffnet. Schrecklich, ich weiß.« Sie errötete und begann,
sich das Haar an den Schläfen glatt zu streichen, als wollte sie sich hinter
ihren Händen verstecken. »Ich konnte nicht anders. Und als mir dämmerte, was
ich da las, na ja, da konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Die Briefe waren
wunderschön, sehr innig. Sehr prägnant, wissen Sie, und gerade weil sie so kurz
waren, so bedeutungsvoll. Aber es lag noch etwas anderes in diesen Briefen,
eine Spur von Traurigkeit. Sie stammten alle aus der Zeit, bevor sie meinen
Vater geheiratet hat - meine Mutter war nicht der Typ, noch Dummheiten zu
machen, nachdem sie erst einmal verheiratet war. Nein, das war eine
Liebesaffäre aus der Zeit, als ihre Mutter noch gelebt hat, als noch gar keine
Möglichkeit bestand zu heiraten oder von zu Hause auszuziehen.«
»Wissen
Sie, von wem sie stammen? Wer die Briefe geschrieben hat?«
Sie ließ
ihre Haare in Ruhe und legte die Hände flach auf den Tisch. Die Stille war
elektrisierend, und als sie sich vorbeugte, tat ich es auch. »Eigentlich
dürfte ich es niemandem sagen«, flüsterte sie. »Ich habe nichts für Klatsch
übrig.«
»Natürlich
nicht.«
Sie
schwieg einen Moment, ihre Mundwinkel zuckten leicht vor Aufregung, dann
blickte sie sich verstohlen um. »Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher; sie
waren nicht mit vollem Namen unterzeichnet, sondern nur mit einem einzelnen
Buchstaben.« Sie sah mich an, blinzelte, dann lächelte sie verschwörerisch.
»Es war ein R.«
»Ein R.« Ich dachte
einen Moment nach, dann begriff ich. »Was? Glauben Sie etwa ... ?« Aber warum
eigentlich nicht? Sie glaubte, dass das R für Raymond Blythe stand. Der
Schlossherr und seine langjährige Haushälterin: Es war natürlich ein Klischee,
aber es war nur deshalb zum Klischee geworden, weil es immer wieder vorgekommen
war. »Das würde auch die Heimlichtuerei in den Briefen erklären, die
Unmöglichkeit, offen zu ihrer Beziehung zu stehen.«
»Es würde
auch noch etwas anderes erklären.«
Ich
schaute sie an, immer noch verwirrt von der ganzen Sache.
»Persephone,
die ältere Schwester, ist mir gegenüber extrem reserviert, und gewiss nicht,
weil ich ihr etwas getan hätte. Und doch habe ich es schon immer gespürt. Als
ich klein war, hat sie mich mal erwischt, wie ich an dem runden Badeteich
gespielt habe, wo die Schaukel hängt. Also — wie sie mich da angesehen hat! Als
wäre ich ein Geist. Ich hatte Angst, sie würde mich auf der Stelle erwürgen.
Aber seit ich das mit der Affäre meiner Mutter weiß und dass es dabei mit
ziemlicher Sicherheit um Mr. Blythe ging, habe ich mich natürlich gefragt, ob
Percy vielleicht davon wusste, ob sie es irgendwie herausgefunden und Anstoß
daran genommen hat. Damals war ja alles noch ganz anders zwischen den Klassen.
Und Percy Blythe ist eine unbeugsame Frau, die streng an Regeln und Traditionen
festhält.«
Ich nickte
langsam; es klang auf jeden Fall nicht abwegig. Percy Blythe hatte generell
nichts Weiches und Warmherziges an sich, aber bei meinem ersten Besuch im
Schloss war mir aufgefallen, dass sie Mrs. Bird gegenüber besonders kurz
angebunden war. Das Schloss barg auf jeden Fall ein Geheimnis. War es
möglicherweise diese Liebesaffäre, wovon Saffy mir erzählen wollte, das Detail,
das sie Adam Gilbert nicht hatte anvertrauen wollen? Und war Percy deshalb so
strikt dagegen, mich mit Saffy reden zu lassen? Weil sie verhindern wollte,
dass ihre Zwillingsschwester das Geheimnis ihres Vaters preisgab und mir von
Raymond Blythes
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