Morton, Kate
krächzend auf die
winzigen roten Ziegeldächer zuflogen. Mrs. Birds Haus schien so weit weg, dass
ich plötzlich überwältigt wurde von der abstrusen Vorstellung, ich hätte auf
meinem Weg den Hügel herauf irgendeine unsichtbare Linie überschritten. Ich
war dort gewesen,
und jetzt war ich hier, also
musste etwas weitaus Komplizierteres geschehen sein als ein simpler
Ortswechsel.
Als ich
mich wieder zum Schloss umdrehte, sah ich, dass unter dem Torbogen des Turms
eine große schwarze Tür offen stand. Seltsamerweise war sie mir vorher gar
nicht aufgefallen.
Ich
überquerte den Rasen, aber an den steinernen Stufen zögerte ich. Neben einem
Windhund aus verwittertem, grauem Marmor saß dessen Abbild aus Fleisch und
Blut, ein schwarzer Hund der Sorte, die ich später als »Lurcher« kennenlernen
sollte. Er hatte mich offenbar die ganze Zeit beobachtet.
Jetzt
sprang er auf und versperrte mir den Weg, während er mich mit seinen dunklen
Augen musterte. Ich brachte es nicht fertig weiterzugehen. Mein Atem ging
flach, und ich fröstelte. Ich empfand jedoch keine Angst. Es ist schwer zu
erklären. Als wäre er der Fährmann oder ein altmodischer Butler, jemand, dessen
Erlaubnis ich brauchte, bevor ich meinen Weg fortsetzen konnte.
Er
trottete geräuschlos auf mich zu, ohne den Blick von mir abzuwenden. Als er mit
seinem Fell leicht meine Fingerspitzen berührte, lief mir ein Schauer über den
Rücken. Dann drehte er sich um und trabte davon. Ohne mich eines weiteren
Blickes zu würdigen, verschwand er durch die offene Tür.
Als würde
er mich auffordern, ihm zu folgen.
Drei verblühte Schwestern
Wenn das
Vergehen der Zeit einen Geruch hat, dann den von Schloss Milderhurst. Es roch
nach Schimmel und Ammoniak, einem Hauch von Lavendel und jeder Menge Staub,
nach dem Zerfall von massenhaft altem Papier. Doch unter alldem lag noch ein
anderer Geruch, nach etwas, das halb verfault oder vergoren ist. Ich brauchte
eine ganze Weile, um herauszufinden, was für ein Geruch das war, aber ich glaube,
jetzt weiß ich es. Es ist die Vergangenheit selbst. Gedanken und Träume,
Hoffnungen und Verletzungen, zu einem Gemisch gebraut, das langsam in der
abgestandenen Luft fermentiert und sich nie ganz auflöst.
»Hallo?«,
rief ich und verharrte auf der obersten Stufe. Ich wartete eine Weile, und als
keine Antwort kam, rief ich noch einmal, diesmal lauter: »Hallo? Ist jemand zu
Hause?«
Mrs. Bird
hatte mir gesagt, ich solle einfach hineingehen, dass die Schwestern Blythe uns
erwarteten und wir uns im Haus treffen würden. Sie hatte mir eingeschärft, nur
ja nicht zu klopfen oder die Glocke zu läuten oder meine Ankunft sonst wie
anzukündigen. Ich hatte meine Zweifel gehabt - da, wo ich herkomme, gilt
unaufgefordertes Eintreten schon fast als Hausfriedensbruch -, aber ich tat,
wie mir geheißen: Ich trat durch den Torbogen in einen runden Raum. Es gab
keine Fenster, und es war ziemlich düster, obwohl die Decke über eine
Lichtkuppel verfügte. Ein Geräusch lenkte meine Aufmerksamkeit nach oben, wo
ein weißer Vogel, der zwischen den Dachsparren hereingeflogen war, in einem
Streifen staubigen Lichts flatterte.
»Ah, da
sind Sie ja.« Die Stimme kam von links, und als ich mich hastig umdrehte, sah
ich eine sehr alte Frau in einem Türrahmen drei Meter von mir entfernt, den
Lurcher neben sich. Sie war groß und hager, trug einen Tweedanzug und eine hochgeschlossene
Bluse mit Kragen, was sie männlich wirken ließ. Überhaupt war jede Weiblichkeit
längst verwelkt. Das kurze weiße Haar, das auf dem Kopf schon schütter wurde,
wuchs über den Ohren in störrischen Büscheln. Ihr ovales Gesicht hatte einen
wachsamen und intelligenten Ausdruck. Mir fiel auf, dass sie sich die
Augenbrauen vollständig ausgezupft und in der Farbe geronnenen Bluts
nachgezogen hatte. Es hatte etwas von Theaterschminke und wirkte ein wenig grimmig.
Sie stand leicht vorgebeugt und stützte sich auf einen eleganten Stock mit
Schildpattgriff. »Sie müssen Edith sein.«
»Ja.« Ich
trat näher, streckte ihr meine Hand entgegen, plötzlich atemlos. »Edith
Burchill. Guten Tag.«
Ihre
kühlen Finger berührten meine Hand, und ihr ledernes Uhrarmband rutschte
geräuschlos auf ihr Handgelenk. »Marilyn Bird hat Sie schon angekündigt. Mein
Name ist Persephone Blythe.«
»Vielen
herzlichen Dank, dass Sie mich empfangen. Seit ich von Schloss Milderhurst gehört
habe, bin ich ganz versessen darauf, es von innen zu sehen.«
»Tatsächlich?«
Sie verzog
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