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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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sich über der frühsommerlichen Morgensonne wölbt.
Wahrscheinlich ist mir dieses Detail in Erinnerung geblieben, weil bei meinem
nächsten Besuch in Milderhurst Gärten, Wald und Felder in metallischen
Herbsttönen leuchteten. Aber nicht an jenem Tag. An jenem Tag wurde alles neu
geboren. Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher und Bienengesumm, und die
wunderbar warme Sonne zog mich den Hügel hinauf zum Schloss.
    Ich ging
und ging, bis ich, als ich schon fürchtete, mich in dem endlosen Wald zu
verlaufen, durch ein verrostetes Tor trat und einen verwahrlosten Badeteich vor
mir sah. Er war kreisrund und hatte einen Durchmesser von mindestens zehn Metern.
Das musste der Teich sein, von dem Mrs. Bird mir erzählt hatte, entworfen von
Oliver Sykes, als Raymond Blythe seine erste Frau mit ins Schloss gebracht
hatte. Natürlich ähnelte er seinem kleinen Bruder unten am Bauernhaus, und doch
sprangen mir sofort die Unterschiede ins Auge. Während Mrs. Birds Teich munter
in der Sonne glitzerte und der Rasen bis an die Randsteine heran sorgfältig
geschnitten war, hatte man diesen Teich hier schon lange sich selbst
überlassen. Die Randsteine waren von Moos überzogen, einige waren sogar
herausgebrochen, und in den Lücken hatten sich Sumpfdotterblumen und
Margeriten angesiedelt, die gelben und weißen Köpfchen zur Sonne geneigt. Auf dem
Wasser schoben sich wuchernde Seerosenblätter übereinander, die von einer
Brise aufgefächert wurden, sodass der Teich aussah wie ein gigantischer
schuppiger Fisch. Ein riesenwüchsiges Tier, eine exotische Anomalie.
    Ich konnte
nicht bis auf den Grund des Teichs sehen, jedoch seine Tiefe erahnen, denn am
gegenüberliegenden Ende befand sich ein Sprungbrett. Das hölzerne Brett war
verwittert und geborsten, die Federn waren verrostet, und es grenzte an ein
Wunder, dass das Ding noch nicht in sich zusammengebrochen war. Vom Ast eines
ausladenden Baums hing eine hölzerne Schaukel an zwei Seilen, erstarrt in der
Umklammerung von Dornenranken, die bis in die Krone geklettert waren.
    Die Ranken
hatten sich nicht mit den Seilen begnügt: Sie hatten sich munter und ungehindert
auf dieser seltsamen, verlassenen Lichtung ausgebreitet. Durch das
unbezähmbare Gestrüpp hindurch erspähte ich einen kleinen gemauerten Pavillon
— wahrscheinlich ein Umkleidehäuschen —, dessen kuppelförmiger Dachaufbau über
dem Grün emporragte. Die Tür war mit einem verrosteten Vorhängeschloss
gesichert, und die Fenster, soweit sichtbar, waren mit einer dicken Schmutzschicht
überzogen, die sich nicht wegwischen ließ. Auf der Rückseite jedoch war eine
Scheibe eingeschlagen, und zwischen den Scherben hindurch, an deren spitzester
ein graues Pelzbüschel aufgespießt war, konnte ich ins Innere lugen. Was ich
mir natürlich nicht entgehen ließ.
    Staub, so
dick, dass ich ihn riechen konnte, jahrzehntealter Staub, der den Boden und
alles andere bedeckte. Der Raum war ungleichmäßig beleuchtet, was den Fenstern
der Dachkuppel zu verdanken war, deren Läden schief an den Scharnieren hingen
oder abgerissen waren und auf dem Boden lagen. In den Lücken schwebten
Staubfäden, die sich in schmalen Lichtstreifen zu Bändern wanden. In einem
Regal lagen ordentlich gefaltete Handtücher, deren Farbe unmöglich zu erraten
war, und an der gegenüberliegenden Wand trug eine stilvolle Tür ein Schild mit
der Aufschrift: »Umkleideraum«. Ein hauchdünner, rosafarbener Vorhang
flatterte gegen einen Stapel Liegestühle, ein seit Gott weiß wie langer Zeit
von niemandem beobachtetes Schauspiel.
    Als ich
vom Fenster wegtrat, nahm ich plötzlich das Geräusch meiner Schuhe auf dem
trockenen Laub wahr. Eine unheimliche Stille lag über der Lichtung, nur
unterbrochen vom sanften Rascheln der Seerosenblätter, und einen flüchtigen
Moment lang konnte ich mir vorstellen, wie es hier ausgesehen haben musste,
als alles noch neu war. Die allgemeine Verwilderung wich einem exquisiten
Anblick: lachende Menschen in altmodischen Badekostümen, die auf ihren Handtüchern
lagen, an Erfrischungsgetränken nippten, erwartungsvoll auf dem Sprungbrett
federten, um schließlich ins kühle Nass zu tauchen ...
    Und dann
war das Bild verschwunden. Ein Blinzeln und ich stand wieder allein vor dem
überwucherten Pavillon. Der Ort strahlte eine Atmosphäre unsagbarer Trauer aus.
Warum, fragte ich mich, hatte man den Badeteich sich selbst überlassen? Warum
hatten die letzten Besitzer ihn aufgegeben, das Umkleidehäuschen verschlossen
und sich

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