Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
Vom Netzwerk:
die schmalen Lippen zu einem Lächeln so schief wie eine Haarnadel.
»Und warum, wenn ich fragen darf?«
    Das wäre
natürlich der Augenblick gewesen, ihr von meiner Mutter zu erzählen, von dem
Brief, von ihrer Evakuierung als kleines Mädchen. Die Erinnerung hätte Percy
Blythes Gesicht aufleuchten lassen, wir wären spazieren gegangen und hätten
Neuigkeiten und alte Geschichten ausgetauscht. Es wäre das Natürlichste auf der
Welt gewesen, weshalb ich selbst überrascht war, als ich mich sagen hörte:
»Ich habe in einem Buch darüber gelesen.«
    Sie gab
ein gelangweiltes »Aha« von sich.
    »Ich lese
sehr viel«, fügte ich hastig hinzu, als könnte diese Wahrheit meine Lüge
mildern. »Ich liebe Bücher. Ich arbeite mit Büchern. Bücher sind mein Leben.«
    Der
Ausdruck ihres runzligen Gesichts erschlaffte angesichts einer derart harmlosen
Antwort, was nicht verwunderlich war. Meine erste Lüge war schon öde genug
gewesen, aber die zusätzlichen biografischen Informationen waren schlichtweg
dämlich. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich nicht einfach die Wahrheit
gesagt hatte, die erheblich interessanter gewesen wäre. Wahrscheinlich war es
das unbewusste, kindische Bedürfnis, meinen Besuch als etwas Eigenes zu
betrachten, etwas, das von der Zeit, die meine Mutter vor fünfzig Jahren hier
verbracht hatte, nicht berührt wurde. Was auch immer es sein mochte, als ich
den Mund aufmachte, um eine Kehrtwendung zu machen, war es zu spät: Miss Percy
hatte mir bereits bedeutet, ihr und dem Lurcher durch den düsteren Flur zu
folgen. Sie ging zügig und leichtfüßig, der Stock schien nur ein weiteres
theatralisches Accessoire zu sein.
    »Schön,
dass Sie pünktlich sind«, sagte sie über die Schulter zu mir. »Wenn ich etwas
verabscheue, dann Unpünktlichkeit.«
    Wir gingen
schweigend weiter. Mit jedem Schritt blieben die Geräusche von draußen weiter
zurück: das Rauschen der Bäume, das Vogelgezwitscher, das entfernte Plätschern
eines Bachs. Geräusche, die ich gar nicht wahrgenommen hatte, bis sie verstummten
und ein eigenartiges Vakuum hinterließen, so intensiv, dass meine Ohren zu
summen begannen und ihre eigenen Fantasiegebilde heraufbeschworen:
Flüstergeräusche, wie von Kindern, wenn sie spielen, sie wären Schlangen.
    Es war
etwas, das mir bald vertraut werden sollte, diese sonderbare Abgeschiedenheit
im Innern des Schlosses. Geräusche, Gerüche und Anblicke, die außerhalb der
Mauern ganz deutlich waren, schienen irgendwie in dem alten Gemäuer stecken zu
bleiben, unfähig, sich den Weg ins Innere zu bahnen. Es war, als hätte der
poröse Sandstein über die Jahrhunderte ungezählte Eindrücke aufgesogen, die in
ihm gefangen waren wie die gepressten Blumen, die zwischen den Seiten von
Büchern aus dem neunzehnten Jahrhundert aufbewahrt und vergessen wurden und
eine Barriere zwischen drinnen und draußen bildeten. In der Luft draußen lag
vielleicht noch eine Ahnung von Butterblumen und frisch gemähtem Gras, aber im
Innern des Schlosses roch es nur nach angehäufter Zeit, dem modrigen Atem von
Jahrhunderten.
    Wir gingen
vorbei an einer Reihe verlockender verschlossener Türen, die ich am liebsten
geöffnet hätte, bis wir schließlich am Ende des Korridors, kurz bevor er um
eine Ecke bog und im Düsteren verschwand, zu einer Tür kamen, die einen
Spaltbreit offen stand. Ein Streifen Licht lächelte von innen und dehnte sich
zu einem Grinsen aus, als Percy Blythe die Tür mit ihrem Stock aufschob.
    Sie trat
zurück und gab mir mit einem deutlichen Nicken zu verstehen, ich solle vorausgehen.
     
    Ich betrat
einen Salon, der in verblüffendem Kontrast zu dem düsteren holzgetäfelten
Korridor stand, aus dem wir gekommen waren: Die ehemals leuchtend gelbe Tapete
war mit der Zeit verblasst, sodass das lebhafte Muster nur noch schwach zu erkennen
war, und ein riesiger, rosa und blau und weiß gemusterter Teppich,
mittlerweile verschossen und fadenscheinig, reichte bis fast an die Fußleisten.
Gegenüber dem mit kunstvollen Ornamenten versehenen offenen Kamin stand ein
Sofa, merkwürdig lang und niedrig, das von häufiger Benutzung zeugte und
trotzdem ausgesprochen einladend wirkte, und daneben eine Singer-Nähmaschine,
in die ein Stück blauer Stoff eingespannt war.
    Der
Lurcher trottete an mir vorbei und machte es sich auf einem platt getretenen
Schafsfell bequem, das unter einem mindestens zweihundert Jahre alten, großen
Gemälde lag: eine Szene mit Hunden und Hähnen, die Oliv- und Brauntöne

Weitere Kostenlose Bücher