Morton, Kate
nie wieder darum gekümmert? Die drei Schwestern Blythe waren zwar
mittlerweile alte Damen, aber das waren sie ja nicht immer gewesen. In all den
Jahren hatte es sicherlich manch heißen Sommer gegeben, ideal, um in dem Teich
zu schwimmen ...
Ich sollte
Antworten auf meine Fragen finden, wenn auch noch nicht so bald. Auch andere
Dinge würde ich erfahren, geheime Dinge, Antworten auf Fragen, von denen ich
mir noch nicht die geringsten Vorstellungen machte. All das lag noch vor mir.
Als ich an jenem Morgen in dem abseits gelegenen Garten von Schloss Milderhurst
stand, schüttelte ich diese Gedanken einfach ab und konzentrierte mich auf die
Aufgabe, die vor mir lag. Abgesehen davon, dass mich die Erforschung des
Badeteichs meinem Besuch bei den Schwestern Blythe keinen Schritt näher
brachte, hatte ich auch das unangenehme Gefühl, dass ich hier auf der Lichtung
überhaupt nichts zu suchen hatte.
Ich las
Mrs. Birds Wegbeschreibung noch einmal gründlich durch.
Genau wie
ich angenommen hatte. Da stand nichts von einem Teich. Eigentlich hätte ich
längst die Vorderfront erreicht und stattliche Säulen passiert haben müssen.
Allmählich
beschlich mich ein mulmiges Gefühl.
Das hier
war auf keinen Fall der südliche Rasen. Und Säulen waren auch nirgends zu
sehen.
Zwar
wunderte es mich nicht, dass ich mich verirrt hatte - das gelingt mir sogar im
Hyde Park -, aber es war ausgesprochen ärgerlich. Die Zeit drängte, und wenn
ich nicht zurückgehen und noch einmal von vorn anfangen wollte, blieb mir kaum
etwas anderes übrig, als auf gut Glück weiter den Hügel hinaufzugehen. Auf der
anderen Seite des Teichs gab es ein Tor und dahinter eine steile Steintreppe,
die in den überwucherten Hügel gehauen war. Mindestens hundert Stufen, die ineinanderzusinken
schienen wie nach einem gewaltigen Seufzer. Aber die Richtung stimmte, also
machte ich mich auf den Weg. Es war eine simple Frage der Logik. Das Schloss
und die Schwestern Blythe befanden sich irgendwo da oben: Wenn ich immer weiter
hochstieg, würde ich irgendwann ans Ziel gelangen.
Die
Schwestern Blythe, so nannte ich sie inzwischen wohl schon automatisch; es war
bereits zu einem stehenden Begriff für mich geworden wie »die Brüder Grimm«.
Merkwürdig, wie schnell sich manche Dinge so ergeben. Bis zu dem Tag, als Junipers
Brief eintraf, hatte ich noch nie etwas von Schloss Milderhurst gehört, und
jetzt zog es mich dorthin wie eine kleine Motte in eine große, helle Flamme.
Angefangen hatte alles mit meiner Mutter, mit der überraschenden Nachricht von
ihrer Evakuierung, dem geheimnisvollen Schloss mit dem schauerlichen Namen.
Dann war die Verbindung zu Raymond Blythe dazugekommen - der Ort, an dem der Modermann entstanden war, unfassbar! Aber jetzt, als ich mich
der Flamme langsam näherte, wurde mir bewusst, dass etwas Neues meinen Puls beschleunigte
und mich erregte. Vielleicht lag es ja an dem, was ich gelesen hatte, oder
daran, was Mrs. Bird mir am Morgen beim Frühstück erzählt hatte, auf jeden Fall
waren es irgendwann vor allem die Schwestern Blythe selbst, die mich
faszinierten.
Das Thema
Geschwister hat mich eigentlich schon immer interessiert. Die Nähe, die
zwischen ihnen herrscht, ich finde sie faszinierend und verstörend zugleich.
Die gemeinsamen Gene, die zufällige und manchmal so ungerechte Verteilung des
Erbguts, die Unentrinnbarkeit der Familienbande. Meine eigenen Erfahrungen in
dieser Hinsicht sind gering. Aber auch ich hatte einmal einen Bruder,
allerdings nur für sehr kurze Zeit. Bevor ich ihn richtig kennenlernen konnte,
war er schon begraben, und bis ich genug begriffen hatte, um ihn vermissen zu
können, waren seine Spuren längst sorgfältig beseitigt worden. Zwei Urkunden,
eine über seine Geburt, eine über seinen Tod, in einem schmalen Ordner in einem
Aktenschrank, ein kleines Foto in der Brieftasche meines Vaters und eins im
Schmuckkästchen meiner Mutter waren alles, was noch sagen konnte: »Ich war
hier!« Abgesehen davon gibt es noch die Erinnerungen und die Trauer in den
Köpfen meiner Eltern, aber sie teilen sie nicht mit mir.
Auch wenn
es fast nichts Greifbares oder Erinnerungswürdiges gibt, womit ich ein Bild
von Daniel heraufbeschwören könnte, so habe ich doch mein Leben lang dieses
Band gespürt. Ein unsichtbarer Faden verbindet uns so selbstverständlich wie
Tag und Nacht. So war es schon, als ich noch klein war. Ich war in meinem
Elternhaus anwesend, er war abwesend. Unausgesprochene Sätze, die
Weitere Kostenlose Bücher