Morton, Kate
eines
Schreiberlings.« Er zeigte mit dem Kinn zum Bauernhof. »Gehen Sie wieder
zurück?«
Ich warf
noch einen letzten Blick auf das Schloss und nickte.
»Darf ich
Sie begleiten?«
»Natürlich.«
Wir brauchten
ziemlich lange wegen seiner Krücke und hatten viel Zeit, uns über unsere
Erinnerungen an das Schloss und die Schwestern Blythe auszutauschen, und
darüber, wie wir als Kinder den Modermann verschlungen
hatten. An der Wiese, die an den Bauernhof grenzte, blieben wir stehen.
»Gott, es
kommt mir fast unverschämt vor, das jetzt zu fragen«, sagte er, während er auf
das qualmende Schloss zeigte. »Trotzdem ...« Er schien auf etwas zu lauschen,
das ich nicht hören konnte. Nickte. »Ja. Ich mache es einfach. Mrs. Button hat
mir Ihre Nachricht übermittelt, als ich gestern Abend nach Hause kam. Ist es
wahr? Haben Sie etwas über die Ursprünge des Modermann herausgefunden?«
Er hatte
freundliche braune Augen, die es mir schwer machten, ihm ins Gesicht zu lügen.
Ich konzentrierte meinen Blick auf seine Stirn. »Nein«, antwortete ich, »leider
nicht. Es war falscher Alarm.«
Seufzend
hob er eine Hand. »Na ja. Dann wird die Wahrheit wohl mit ihnen sterben. Die ganze
Sache hat beinahe etwas Poetisches. Die Menschen brauchen Geheimnisse, finden
Sie nicht auch?«
Bevor ich
ihm zustimmen konnte, erregte etwas meine Aufmerksamkeit, und zwar beim
Bauernhaus. »Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?«, fragte ich. »Ich
muss dringend etwas erledigen.«
Ich weiß
nicht, was Chief Inspector Rawlins dachte, als er eine übernächtigte Frau mit
zerzausten Haaren über die Wiese auf sich zukommen sah, erst recht nicht, als
ich begann, ihm meine Geschichte zu erzählen. Man muss ihm zugutehalten, dass
er keine Miene verzog, als ich ihm am Frühstückstisch nahelegte, seine
Ermittlungen auszudehnen; dass ich aus glaubwürdiger Quelle von zwei Leichen wüsste, die beim Schloss
begraben seien. Er rührte seinen Tee nur ein wenig langsamer um, als er antwortete:
»Zwei Männer, sagen Sie? Sie wissen nicht zufällig ihre Namen?«
»Doch. Der
eine hieß Oliver Sykes, der andere Thomas Cavill. Sykes ist im Jahr 1910 bei dem Brand umgekommen, dem auch Muriel Blythe zum Opfer
gefallen ist, und Thomas Cavill starb bei einem Unfall während eines Gewitters
im Oktober 1941.«
»Verstehe.«
Er schlug nach einer Mücke neben seinem Ohr, ohne den Blick von mir abzuwenden.
»Sykes ist
auf der westlichen Seite des Schlosses begraben, wo früher der Burggraben war
...«
»Und der
andere?«
Ich musste
an die Nacht des Gewitters denken, als Juniper verzweifelt durch die Flure und
in den Garten hinausgeeilt war und Percy genau gewusst hatte, wo sie sie finden
würde. »Thomas Cavill liegt auf dem Haustierfriedhof«, sagte ich. »Genau in der
Mitte, neben einem Grabstein mit der Aufschrift Emerson.«
Er
musterte mich nachdenklich, während er an seinem Tee nippte und noch einen
halben Löffel Zucker hinzufügte. Er rührte um, und seine Augen wurden schmal.
»Wenn Sie
die Akten überprüfen«, fuhr ich fort, »werden Sie feststellen, dass Tom Cavill
seither als vermisst gilt und für keinen der beiden Männer eine Todesurkunde
ausgestellt wurde.« Und jeder Mensch brauchte seine vollständigen Daten, genau
wie Percy Blythe es mir erklärt hatte. Es reichte nicht, nur den Beginn des
Lebens zu registrieren. Ein Mensch, hinter dessen Leben die Klammer nicht
geschlossen worden war, würde nie seine letzte Ruhe finden.
Ich
entschloss mich, das Vorwort für die Neuauflage des Modermann nicht zu schreiben. Ich erklärte Judith Waterman von Pippin Books, es
habe Terminprobleme gegeben und ich hätte kaum Gelegenheit gehabt, vor dem
Brand mit den Schwestern Blythe zu sprechen. Sie sagte, sie könne das verstehen
und sie sei überzeugt, dass Adam Gilbert mit Vergnügen die einmal begonnene
Arbeit zu Ende führen werde. Das klang vernünftig. Schließlich hatte er bereits
reichlich Material zusammengetragen.
Ich hätte
den Text unmöglich schreiben können. Ich kannte die Lösung eines Rätsels, das
die Fachwelt seit fünfundsiebzig Jahren beschäftigte, aber ich konnte mein
Wissen einfach nicht veröffentlichen. Es wäre mir wie ein Verrat an Percy
Blythe vorgekommen. »Dies ist eine Familiengeschichte«, hatte sie gesagt, ehe
sie mich gefragt hatte, ob sie mir vertrauen könne. Außerdem hätte es
bedeutet, eine traurige und schmutzige Geschichte ans Licht zu zerren, die den
Roman für alle Zeiten überschatten würde.
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