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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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vergessen hatte: Ihre Gesichtszüge, ihre ganze Haltung schien sich zu
entspannen. Eine lebenslange Abwehr fiel von ihr ab, und ich erblickte das
junge Mädchen in ihr, als wäre es gerade aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht.
    »Und was ist aus deinem Schreiben
geworden?«, fragte ich.
    »Wie bitte?«
    »Die Schriftstellerei. Hast du sie
nicht weiterverfolgt?«
    »Ach was.
Das habe ich alles aufgegeben.« Sie zog die Nase kraus und sah mich beinahe
entschuldigend an. »Wahrscheinlich findest du das feige.«
    »Feige?
Nein. Aber wenn es dir doch so viel Spaß gemacht hat, dann verstehe ich nicht,
warum du damit aufgehört hast.«
    Die Sonne
brach durch die Wolken und zeichnete gesprenkelte Schatten auf die Wange
meiner Mutter. Sie schob ihre Brille zurecht, strich sich leicht über das Haar
und legte dann die Hände vorsichtig auf das Manuskript. »Es hatte so viel mit
meiner Vergangenheit zu tun, mit dem, was ich einmal gewesen bin«, sagte sie.
»Das spielt alles irgendwie mit hinein. Mein Kummer, weil ich dachte, Juniper
und Tom hätten mich im Stich gelassen, das Gefühl, dass ich versagt hatte, weil
ich nicht zu dem Bewerbungsgespräch gegangen war ... Ich glaube, da hat es
aufgehört, mir Spaß zu machen. Ich habe mich dann mit deinem Vater zusammengetan
und mich lieber auf die Zukunft konzentriert.« Sie betrachtete erneut das
Manuskript, hielt eine Seite hoch und lächelte über das, was sie las. »Es hat
mir wirklich viel Spaß gemacht«, sagte sie. »Sich etwas Abstraktes vorzunehmen
wie einen Gedanken, ein Gefühl oder einen Geruch, und das zu Papier zu bringen.
Ich hatte ganz vergessen, wie viel Freude es mir bereitet hat.«
    »Es ist
nie zu spät, wieder anzufangen.«
    »Edie,
meine Liebe.« In ihrer Stimme lag leichtes Bedauern, während sie mich liebevoll
über den Rand ihrer Brille hinweg anlächelte. »Ich bin fünfundsechzig. Ich habe
seit Jahrzehnten höchstens noch Einkaufszettel geschrieben. Ich glaube, ich
kann guten Gewissens behaupten, dass es dafür zu spät ist.«
    Ich
schüttelte den Kopf. Während meines ganzen Arbeitslebens habe ich Menschen
jeden Alters kennengelernt, die schrieben, einfach weil sie nicht anders
konnten. »Es ist nie zu spät, Mum«, sagte ich noch einmal, aber sie hörte schon
gar nicht mehr zu. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Schloss. Sie zog die
Strickjacke enger um sich.
    »Weißt du,
das ist wirklich merkwürdig. Ich wusste nicht, wie ich mich fühlen würde, aber
jetzt, wo ich hier bin, weiß ich nicht, ob ich überhaupt dorthin gehen kann.
Ich glaube, ich möchte es gar nicht.« »Wirklich nicht?«
    »Ich habe
ein Bild im Kopf. Ein sehr glückliches Bild; ich will nicht, dass es sich
ändert.«
    Vielleicht
erwartete sie, dass ich versuchen würde, sie zu überreden, aber ich tat es
nicht. Ich konnte es nicht. Das Schloss war inzwischen ein trauriger Ort, vom
Verfall gekennzeichnet, genauso wie seine drei Bewohnerinnen. »Das kann ich gut
verstehen«, sagte ich. »Es sieht alles recht mitgenommen aus.«
    »Du siehst
auch mitgenommen aus, Edie.« Sie runzelte die Stirn, als hätte sie meine
Erschöpfung erst jetzt bemerkt.
    Prompt
musste ich gähnen. »Na ja, es war eine ziemlich ereignisreiche Nacht. Ich habe
nicht viel geschlafen.«
    »Ja, Mrs.
Bird hat von einem Gewitter gesprochen ... Ich hätte Lust, ein bisschen im
Garten spazieren zu gehen. Ich habe ja genug, womit ich mich beschäftigen
kann.« Sie spielte mit den Fingern am Rand des Manuskripts. »Du kannst dich
gern ein bisschen hinlegen.«
     
    Als ich in
mein Zimmer gehen wollte, stand Mrs. Bird auf dem Treppenabsatz, wedelte mit
irgendetwas über dem Geländer und fragte, ob sie mich einen Moment sprechen
könne. Sie wirkte so enthusiastisch, dass mich, obwohl ich mich einverstanden
erklärte, eine gewisse Beklommenheit beschlich.
    »Ich
möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte sie mit einem Blick über die Schulter. »Es
ist ein kleines Geheimnis.«
    Nach den
vergangenen vierundzwanzig Stunden konnte mich das nicht mehr sonderlich
beeindrucken.
    Sie
drückte mir einen grauen Briefumschlag in die Hand und flüsterte
verschwörerisch: »Es ist einer von den Briefen.«
    »Welche
Briefe?«
    In den
vergangenen Monaten hatte ich eine Menge Briefe gesehen.
    Sie sah
mich an, als hätte ich vergessen, welcher Wochentag war. Was sogar stimmte.
»Die Briefe, von denen ich Ihnen erzählt habe, die Raymond Blythe meiner
Mutter geschrieben hat.«
    »Ach so! Die
Briefe, ja, natürlich.«
    Sie nickte
eifrig, und die

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