Morton, Kate
Kuckucksuhr an der Wand hinter ihr wählte genau diesen Moment,
ein Paar tanzender Mäuse auszuspucken. Wir warteten, bis sie ihren Tanz beendet
hatten, dann sagte ich:
»Möchten
Sie, dass ich ihn lese?«
»Sie
brauchen ihn nicht zu lesen«, sagte Mrs. Bird, »falls Ihnen das peinlich ist.
Es ist nur so, dass mich etwas, das Sie neulich abends gesagt haben,
nachdenklich gestimmt hat.«
»So, was
denn?«
»Sie
sagten, Sie wollten sich Raymond Blythes Kladden ansehen gehen, und da dachte
ich, dass Sie wahrscheinlich inzwischen einen guten Blick für seine Handschrift
haben.« Sie holte Luft. »Ich habe mich gefragt, beziehungsweise gehofft ...«
»Dass ich
einen Blick darauf werfen und es Ihnen sagen könnte.« »Genau.«
»Na ja,
ich denke ...«
»Großartig!«
Sie faltete die Hände unter dem Kinn, während ich das Blatt aus dem Umschlag
zog.
Ich sah
sofort, dass ich sie würde enttäuschen müssen; der Brief war auf keinen Fall
von Raymond Blythe geschrieben. Nachdem ich seine Kladden so eingehend studiert
hatte, war ich sehr vertraut mit seiner schrägen Handschrift, den langen
geschwungenen Unterlängen beim G und beim J, dem speziellen R in seiner
Unterschrift. Nein, diesen Brief hatte jemand anders geschrieben.
Lucy,
meine Liebste, meine Einzige,
habe ich
Dir je erzählt, wie ich mich in Dich verliebt habe? Dass es passiert ist, als
ich Dich zum ersten Mal gesehen habe? Etwas in der Art, wie Du dort standst,
wie Du Deine Schultern gehalten hast, wie sich ein paar Haarsträhnen gelöst
hatten und Dir in den Nacken fielen: In diesem Moment war ich Dir bereits
verfallen.
Ich denke
an das, was Du gesagt hast, als wir das letzte Mal zusammen waren. Ich kann an
nichts anderes mehr denken. Ich frage mich, ob Du vielleicht recht hast, dass
es nicht nur ein Wunschtraum ist. Dass wir einfach alles hinter uns lassen und
zusammen fortgehen könnten, weit fort von hier.
Weiter
brauchte ich nicht zu lesen. Ich überschlug die wenigen nächsten Absätze und
betrachtete die einzelne Initiale, von der Mrs. Bird mir erzählt hatte. Und als
ich den Buchstaben sah, fügte sich alles wie ein Puzzle zusammen. Diese
Handschrift hatte ich schon einmal gesehen.
Ich
wusste, wer den Brief geschrieben hatte, wen Lucy Middleton so sehr geliebt
hatte. Mrs. Bird hatte recht - diese Liebe hatte allen gesellschaftlichen
Konventionen widersprochen -, aber es war nicht die Liebe zwischen Raymond und
Lucy gewesen. Die Initiale am Ende dieses Briefs war kein R, sondern ein P,
geschrieben in einer altmodischen Handschrift, mit einem kleinen Bogen am
unteren Ende des Buchstabens. Das konnte man leicht mit einem R verwechseln,
vor allem, wenn man ein R lesen wollte.
»Was für
ein wundervoller Brief«, sagte ich und hatte plötzlich einen Kloß im Hals,
denn der Gedanke an diese beiden Frauen und an die lange Zeit, die sie getrennt
voneinander verbracht hatten, machte mich wehmütig.
»Und
traurig, finden Sie nicht auch?« Seufzend verstaute sie den Brief wieder in
ihrer Tasche, dann sah sie mich hoffnungsvoll an: »Und so wunderschön
geschrieben.«
Nachdem
ich mich endlich von Mrs. Bird befreit hatte, indem ich mich so unverbindlich
wie möglich geäußert hatte, ging ich in mein Zimmer und warf mich quer aufs
Bett. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu entspannen, aber es war zwecklos.
Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um das Schloss. Ich musste an Percy Blythe
denken, die als junge Frau so innig geliebt hatte; die man für steif und kalt
hielt; die ihr Leben lang ein Geheimnis gehütet hatte, um ihre kleine Schwester
zu schützen.
Percy
hatte mir von Oliver Sykes und Thomas Cavill erzählt, unter der Bedingung, dass
ich »das Richtige« täte. Sie hatte von Geburts- und Todesdaten gesprochen, aber
ich konnte mir einfach nicht erklären, warum sie den Drang verspürt hatte, mir
das alles zu erzählen. Was ich ihrer Meinung nach mit diesen Informationen
anfangen sollte, das sie nicht selbst hätte tun können. Ich war zu erschöpft
an jenem Nachmittag. Ich brauchte Schlaf und freute mich darauf, den Abend mit
meiner Mutter zu verbringen. Ich nahm mir vor, Percy Blythe am folgenden Morgen
einen letzten Besuch abzustatten.
Und zum Schluss
Aber dazu sollte ich keine Gelegenheit mehr bekommen. Nach dem Abendessen mit
meiner Mutter schlief ich selig ein, schreckte jedoch kurz nach Mitternacht
aus meinen Träumen. Ich blieb eine Weile liegen, fragte mich, was mich aus dem
Schlaf gerissen hatte, ob ich
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