Morton, Kate
Tatsache, dass ich auf
Sarah angewiesen war, als ich mehr über die Blümchen und die Bienchen erfahren
wollte, der geisterhafte Bruder, von dem wir alle so taten, als würden wir ihn
nicht sehen.
Aber
Herbert hatte recht: Es war das Geheimnis meiner Mutter, und wenn ich der
Wahrheit auf den Grund gehen wollte, wenn ich mehr über das kleine Mädchen
erfahren wollte, das mich wie ein Schatten durch Schloss Milderhurst begleitet
hatte, dann musste ich mich direkt an sie wenden. Und wie das Glück es wollte,
hatten wir uns für die folgende Woche in einer Konditorei gleich um die Ecke
von Billing & Brown zum Kaffee verabredet. Um elf Uhr machte ich mich auf
den Weg, setzte mich an einen Tisch in einer dunklen Ecke und bestellte das
Übliche. Kaum hatte die Kellnerin eine Tasse dampfenden Darjeeling vor mich
auf den Tisch gestellt, drangen Straßengeräusche ins Café, und als ich
aufblickte, sah ich, dass meine Mutter zögernd in der offenen Tür stand,
Handtasche und Mütze in der Hand. In ihrer Miene spiegelte sich misstrauische
Wachsamkeit, als sie sich in dem sehr modernen Café umsah, und ich schaute weg:
auf meine Hände, den Tisch, fummelte am Reißverschluss meiner Handtasche herum,
alles, nur um ihr Mienenspiel nicht sehen zu müssen. Dieser Ausdruck der
Verunsicherung war mir in letzter Zeit öfter an ihr aufgefallen. Ich weiß
nicht, ob es daran lag, dass sie älter wurde oder dass ich älter wurde, oder
an der allgemeinen Beschleunigung des Lebens. Meine Reaktion darauf bestürzte
mich, denn sie so schwach zu erleben hätte eigentlich mein Mitgefühl für sie
hervorrufen müssen, sie mir noch liebenswerter machen müssen, aber das
Gegenteil war der Fall. Es machte mir Angst, es war wie ein Riss in der
Normalität, der drohte, alles hässlich und unkenntlich werden zu lassen. Mein
Leben lang war meine Mutter für mich eine Autorität gewesen, unfehlbar in
allem, was sie tat. Sie so verunsichert zu erleben, vor allem in einer
Situation, der ich locker gewachsen war, brachte meine Welt aus dem
Gleichgewicht und ließ mich den festen Boden unter den Füßen verlieren. Also
wartete ich und blickte erst nach einer Weile auf, suchte ihr Gesicht, das
wieder selbstsicherer wirkte, und winkte ihr lächelnd zu, als hätte ich sie gerade
erst entdeckt.
Sie bahnte
sich ihren Weg durch das voll besetzte Café, beinahe demonstrativ vorsichtig
darauf bedacht, niemanden mit ihrer Tasche anzurempeln, als wollte sie ihr
Missfallen über die Tischordnung zum Ausdruck bringen. Währenddessen vergewisserte
ich mich, dass niemand auf ihrer Seite des Tischs Zucker verstreut, Cappuccinoschaum
verschüttet oder Kuchenkrümel hinterlassen hatte. Dass wir uns mehr oder
weniger regelmäßig im Café verabredeten, war neu, wir hatten damit angefangen
wenige Monate, nachdem mein Vater in Rente gegangen war. Es war für uns beide
noch ungewohnt und machte uns immer ein bisschen verlegen, auch wenn ich nicht
gerade vorhatte, einen heiklen Vorstoß in die Vergangenheit meiner Mutter zu
wagen. Ich erhob mich kurz, als sie an den Tisch kam, meine Lippen berührten
die Wange, die sie mir darbot, dann setzten wir uns lächelnd, erleichtert, dass
die Begrüßung in der Öffentlichkeit vorüber war.
»Ziemlich
warm draußen, was?«
»Ja,
sehr«, sagte ich, und dann begaben wir uns zunächst einmal auf vertrautes
Terrain: die Aufräumwut meines Vaters (diesmal hatte er sich den Dachboden
vorgenommen), meine Arbeit (übersinnliche Erfahrungen in der Romney Marsh) und
der Klatsch aus dem Bridge-Club meiner Mutter. Dann entstand eine Pause. Wir
lächelten einander an, bis meine Mutter ihre übliche Frage nicht länger zurückhalten
konnte: »Und wie geht's Jamie?« »Gut.«
»Ich habe
die Kritik in der Times gelesen.
Das Stück ist offenbar gut angekommen.«
»Ja.« Ich
hatte sie auch gelesen. Ich suchte nicht danach, wirklich nicht. Sie war mir
einfach ins Auge gefallen, als ich die Zeitung wegen der Vermietungsanzeigen
durchgeblättert hatte. Es war übrigens eine sehr gute Kritik gewesen. Verdammte
Zeitung: Interessante Angebote an Mietwohnungen hatte ich nicht gefunden.
Meine
Mutter unterbrach ihren Redefluss, als der Cappuccino gebracht wurde, den ich
für sie bestellt hatte. »Erzähl mal«, sagte sie dann, während sie eine
Papierserviette zwischen Tasse und Untertasse legte, weil etwas vom Schaum
übergeschwappt war. »Was hat er als Nächstes vor?«
»Er
arbeitet an einem Drehbuch. Sarah hat einen Freund, der Regisseur ist. Der
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