Morton, Kate
Gewissheit,
dass meine Mutter in irgendeiner Weise bei dem, was Juniper widerfahren war,
eine Rolle gespielt hatte. Alles andere ergab für mich einfach keinen Sinn. Es
erklärte die Reaktion meiner Mutter auf den verloren gegangenen Brief, den
Aufschrei - denn es war ein Schmerz gewesen, oder nicht? —, als sie den Absender
gelesen hatte, derselbe Aufschrei, den ich als Kind gehört hatte, als wir von
Milderhurst weggefahren waren. Dieser heimliche Besuch vor mehr als zwanzig
Jahren, als meine Mutter mich an der Hand genommen, von dem Tor weggezerrt und
unsanft in den Wagen bugsiert und mir nichts weiter erklärt hatte, als dass es
ein Fehler gewesen sei, dass es zu spät sei.
Aber zu
spät wozu? Vielleicht, um sich zu entschuldigen, eine lange zurückliegende
Verfehlung wiedergutzumachen. Waren es Schuldgefühle gewesen, die sie nach
Milderhurst getrieben und dann hatten fliehen lassen, noch ehe wir durch das
Tor gegangen waren? Gut möglich. Und wenn es stimmte, würde das ihren Schmerz
erklären. Und es könnte auch erklären, warum sie die Geschichte die ganze Zeit
über geheim gehalten hatte. Denn ihre Heimlichtuerei beschäftigte mich genauso
wie das Geheimnisvolle an der Sache selbst. Ich glaube nicht an eine Verpflichtung,
seinen Kindern die volle Wahrheit zu enthüllen, aber in diesem Fall wurde ich
das Gefühl nicht los, dass ich belogen worden war. Mehr noch, dass ich
irgendwie direkt betroffen war. Irgendetwas war da in der Vergangenheit meiner
Mutter, etwas, das zu verbergen sie sich alle Mühe gegeben hatte, und es
weigerte sich, dort zu bleiben. Eine Tat, eine Entscheidung, vielleicht nur
ein Augenblick, als sie ein junges Mädchen war. Etwas, das seinen langen,
dunklen Schatten bis in die Gegenwart meiner Mutter und damit auch in meine
eigene warf. Ich musste wissen, was da vorgefallen war. Und zwar nicht nur aus
Neugier, nicht nur, weil ich ein so tiefes Mitgefühl für Juniper Blythe
empfand, sondern weil dieses Geheimnis auf eine Weise, die schwer zu erklären
ist, die Distanz repräsentierte, die mein Leben lang zwischen meiner Mutter und
mir geherrscht hatte.
»Ja, da
gebe ich dir recht«, sagte Herbert, als ich ihm das erklärte. Wir hatten den
Nachmittag damit verbracht, meine Bücherkisten und sonstigen Habseligkeiten
auf seinem vollgestellten Dachboden zu verstauen, und waren danach zu einem
kleinen Spaziergang durch
Kensington Gardens aufgebrochen. Die Spaziergänge haben wir uns zur täglichen
Angewohnheit gemacht, eine verdauungsfördernde Maßnahme für Jess, die der
Tierarzt uns ans Herz gelegt hatte, wovon die Hündin leider alles andere als
begeistert war. »Komm, Jessie«, sagte Herbert und gab ihrem Hinterteil, das am
Boden festgewachsen schien, einen kleinen Schubs mit dem Fuß. »Wir sind gleich
bei den Enten, altes Mädchen.«
»Aber wie
soll ich das alles in Erfahrung bringen?« Natürlich konnte ich Tante Rita
fragen, aber so angespannt, wie das Verhältnis meiner Mutter zu ihrer älteren
Schwester war, kam mir der bloße Gedanke ziemlich hinterhältig vor. Ich schob
die Hände tief in meine Hosentaschen, als könnte ich die Antwort zwischen den
Flusen finden. »Was soll ich tun? Wo soll ich anfangen?«
»Tja,
Edie«, er gab mir die Hundeleine, nahm eine Zigarette aus seiner Tasche und
zündete sie an. »Ich denke, das liegt auf der Hand.«
»Ach ja?«
Er stieß
eine imposante Rauchwolke aus. »Das weißt du genauso gut wie ich, meine Liebe —
du musst deine Mutter fragen.«
Dass
Herbert seinen Vorschlag naheliegend fand, war absolut verständlich, und das
hatte ich mir zum Teil selbst zuzuschreiben. Vielleicht hatte ich ihm einen
falschen Eindruck von meiner Familie vermittelt, indem ich zunächst von dem
verloren gegangenen Brief erzählt hatte. Mit diesem Brief hat die Geschichte
zwar angefangen, aber es war nicht meine Geschichte,
oder besser gesagt, nicht die Geschichte von Meredith und Edie. Jemand, der uns
an jenem Samstagnachmittag erlebt hätte, hätte durchaus meinen können, dass
wir einen herzlichen Umgang
pflegten, dass wir es gewohnt waren, entspannt miteinander zu plaudern und
unsere Gefühle auszutauschen. Aber so schön das auch klingen mag, das war nicht
der Fall. Ich erinnere mich an eine Menge Kindheitserlebnisse, die bestätigen,
dass unser Verhältnis keineswegs geprägt war von Gesprächen und gegenseitigem
Verständnis: das unerklärliche Auftauchen eines panzerartigen BHs in meiner
Schublade, als ich gerade dreizehn geworden war, die
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