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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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dem
Märchenunsinn anfangen wolle, warum ich nicht lieber etwas über die wirkliche
Welt lernte.
    »Ich hatte
ganz vergessen, dass ich Geschichten geschrieben habe«, sagte ich, während ich
das Buch umdrehte und über das Verlagssignet lächelte, das ich auf die
Rückseite gezeichnet hatte.
    »Na ja.«
Sie fegte einen Krümel vom Tisch. »Jedenfalls fand ich, du solltest es haben.
Dein Vater räumt gerade den Speicher auf, und da ist es mir in die Hände
gefallen. Es wäre doch zu schade, es den Silberfischen zu überlassen, oder? Wer
weiß, vielleicht hast du ja mal eine Tochter, der du es zeigen möchtest.« Sie
richtete sich auf, und das Kaninchenloch in die Vergangenheit schloss sich
hinter ihr. »Und? Wie war dein Wochenende?«, fragte sie. »Hast du irgendetwas
Besonderes gemacht?«
    Da war es.
Das perfekte Fenster, weit offen. Einen besseren Einstieg hätte ich mir nicht
ausdenken können. Und als ich Das Buch von
den nassen Zaubertieren in meinen Händen betrachtete, das
vergilbte Papier, die Filzstiftkleckse, die kindlichen Zeichnungen, als mir
klar wurde, dass meine Mutter es all die Jahre über aufgehoben hatte, trotz
ihrer Bedenken gegenüber meinem brotlosen Beruf, dass sie ausgerechnet diesen
Tag gewählt hatte, um mich an einen Teil meiner selbst zu erinnern, den ich
ganz vergessen hatte, verspürte ich den unbändigen Wunsch, ihr alles zu
erzählen, was ich in Schloss Milderhurst erlebt hatte. Plötzlich war ich fest
davon überzeugt, dass alles gut werden würde.
    »Ja«,
sagte ich. »Das habe ich tatsächlich.«
    »Ach?« Sie
lächelte erfreut.
    »Etwas
ganz Besonderes.« Mein Herz begann wie wild zu pochen, mir war, als würde ich
mich selbst von außen beobachten, wie ich vor dem Abgrund wankte, und mich
fragen, ob ich den Sprung wagen würde. »Ich habe an einer Führung teilgenommen«,
sagte eine schwache Stimme, die meiner irgendwie ähnlich klang. »Im Schloss
Milderhurst.«
    »Du ...
Was?« Die Augen meiner Mutter weiteten sich. »Du bist nach Milderhurst
gefahren?« Sie hielt meinem Blick stand, als ich nickte, dann schaute sie weg.
Sie drehte ihre Tasse an dem winzigen Henkel hin und her, und ich sah ihr mit
ängstlicher Neugier zu, unsicher, was als Nächstes passieren würde, gespannt
und zugleich unwillig, es zu erfahren.
    Ich hätte
mehr Vertrauen haben sollen. Wie ein herrlicher Sonnenaufgang, der einen
wolkenbedeckten Horizont erhellt, fand sie ihre Würde wieder. Sie hob den Kopf,
lächelte mich an und stellte die Tasse ab. »Na so was«, sagte sie. »Schloss
Milderhurst. Und wie war's?«
    »Das
Schloss war ... groß.« Es war das Einzige, was mir einfiel, ausgerechnet mir,
die ich mit Worten arbeite. Es lag an meiner Verblüffung. Über die unglaubliche
Verwandlung, deren Zeugin ich gerade geworden war. »Wie etwas aus einem
Märchen.«
    »Eine
Führung, sagtest du? Ich wusste gar nicht, dass es dort so etwas gibt. Das sind
wohl unsere modernen Zeiten.« Sie machte eine Handbewegung. »Hauptsache, es
bringt Geld.«
    »Es war
inoffiziell«, sagte ich. »Eine der Eigentümerinnen hat mich herumgeführt. Eine
sehr alte Dame namens Percy Blythe.«
    »Percy?«
Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme, der einzige Riss in der Fassade. »Percy
Blythe? Wohnt die immer noch da?«
    »Sie sind
alle noch da, Mum. Alle drei. Sogar Juniper, die dir den Brief geschickt hat.«
    Meine
Mutter öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, aber es kam nichts, und
sie machte ihn wieder zu. Ganz fest. Sie verschränkte die Finger auf ihrem
Schoß und saß bleich und reglos da wie eine marmorne Statue. Auch ich rührte
mich nicht, doch irgendwann konnte ich das Schweigen nicht länger ertragen.
    »Es war
unheimlich«, sagte ich und hob meine Teetasse an. Mir fiel auf, dass meine
Hände zitterten. »Alles war verstaubt und düster, und sie dort alle drei in dem
alten Salon sitzen zu sehen, in diesem großen, alten Haus ... Ich kam mir
beinahe vor wie in einem Puppen...«
    »Juniper
... Edie ...« Die Stimme meiner Mutter klang fremd und dünn. Sie räusperte
sich. »Wie ging es ihr? Wie kam sie dir vor?«
    Womit
sollte ich anfangen: die kindliche Freude, ihre ungepflegte Erscheinung, die
verzweifelten Vorwürfe ... »Sie war verwirrt«, sagte ich. »Sie trug ein
altmodisches Kleid, und sie hat mir erzählt, sie wartete auf jemanden, einen
Mann. Die Frau in der Pension, wo ich übernachtet habe, hat gesagt, es geht ihr
nicht gut, dass ihre Schwestern sich um sie kümmern.«
    »Sie

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