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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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auf ihn, sodass man sie leicht für eine junge, naive Frau ohne
nennenswerte Vergangenheit hält, deren Leben gerade erst beginnt. Und meine
Mutter hatte ihr Bestes getan, diesen Mythos aufrechtzuerhalten, denn wenn sie
jemals über die Zeit vor ihrer Hochzeit sprach, erzählte sie nur von meinem Vater.
    Aber als
ich, gerade zurück von meinem Besuch bei Rita, an das Bild dachte, sah ich vor
allem das Gesicht meiner Mutter, ein bisschen weniger beleuchtet, ein bisschen
kleiner als seins. War es möglich, dass die junge Frau mit den großen Augen ein
Geheimnis hatte? Dass sie zehn Jahre vor der Hochzeit mit dem soliden,
strahlenden Mann auf dem Foto eine flüchtige Liebesaffäre mit ihrem Lehrer
hatte, mit dem Mann, der mit ihrer älteren Freundin verlobt war? Damals musste
sie etwa fünfzehn gewesen sein, und Meredith Burchill war keinesfalls die Frau,
zu der das zu passen schien - aber was war mit Meredith Baker? Meine Mutter
hatte mir während meiner Jugend zahllose Vorträge darüber gehalten, was
anständige Mädchen taten und nicht taten. War es möglich, dass sie aus
Erfahrung gesprochen hatte?
    Plötzlich
überkam mich das bedrückende Gefühl, dass ich über die Frau, die neben mir saß,
alles und nichts wusste. Die Frau, die mich geboren und großgezogen hatte, war
mir im Grunde genommen eine Fremde. Im Lauf von dreißig Jahren hatte ich ihr
kaum mehr Dimensionen zugebilligt als den Ankleidepuppen, mit denen ich als
Kind gespielt hatte, Papierpuppen mit aufgemaltem Lächeln und Papierkleidchen
zum Anhängen. Mehr noch, ich war seit Monaten dabei, rücksichtslos ihre
tiefsten Geheimnisse auszugraben, und hatte mir nicht einmal die Mühe gemacht,
sie nach ganz normalen Dingen zu fragen. Aber als ich jetzt mit ihr im
Krankenhaus saß, während mein Vater irgendwo auf der Intensivstation lag, war
es mir auf einmal unglaublich wichtig, mehr über meine Eltern zu erfahren. Über
meine Mutter. Über die geheimnisvolle Frau, die Anspielungen auf Shakespeare
machte, die als Jugendliche Artikel an Zeitungen geschickt hatte.
    »Mum?«
    »Hmm?«
    »Wie habt
ihr euch eigentlich kennengelernt, du und Dad?«
    Ihre
Stimme klang brüchig nach dem langen Schweigen, und sie räusperte sich. »Im
Kino. Es lief The Holly and the Ivy. Den kennst
du doch?«
    Schweigen.
    »Ich
meine, wie habt ihr
euch kennengelernt? Hast du ihn gesehen? Hat er dich gesehen? Wer hat wen
angesprochen?«
    »Daran
kann ich mich nicht mehr erinnern. Er. Nein, ich. Ich hab's vergessen.« Sie
bewegte die Finger einer Hand wie ein Puppenspieler, der eine Marionette bedient.
»Wir waren die einzigen Zuschauer im Kino. Stell dir das mal vor.«
    Der
Gesichtsausdruck meiner Mutter hatte sich verändert, sie wirkte beinahe ein
bisschen entrückt, aber liebevoll, erleichtert, der verwirrenden Gegenwart
einen Moment lang zu entkommen, in der ihr Mann in einem nahe gelegenen Zimmer
um sein Leben rang. »Sah er gut aus?«, bohrte ich weiter. »War es Liebe auf den
ersten Blick?«
    »Wohl
kaum. Ich hatte ihn erst für einen Mörder gehalten.«
    »Wie
bitte? Dad?«
    Ich
glaube, sie hat mich nicht mal gehört, so sehr war sie in ihre Erinnerungen
eingetaucht. »Es ist ziemlich gruselig, allein in einem Kino zu sitzen. All die
leere Sitze, die Dunkelheit, die riesige Leinwand. So ein Kinosaal ist für
viele Leute gedacht, und wenn keine da sind, bekommt er etwas Unheimliches. Im
Dunkeln kann alles passieren.«
    »Saß er
direkt neben dir?«
    »Gott,
nein. Er ist höflich auf Abstand geblieben - er ist ein Gentleman, dein Vater
-, aber nachher, im Foyer, sind wir ins Gespräch gekommen. Er war mit jemand
verabredet gewesen ...«
    »Mit einer
Frau?«
    Sie
konzentrierte sich auf den Stoff ihres Rocks und sagte mit einem vorwurfsvollen
Unterton: »Ach, Edie.« »Ich frage ja nur.«
    »Ich
glaube, es war eine Frau, aber sie ist nicht gekommen. Und das«, meine Mutter
stemmte die Hände auf die Knie und hob den Kopf mit einem leisen Schniefen,
»war alles. Er hat mich zum Tee eingeladen, und ich habe die Einladung angenommen.
Wir sind in den Lyons Corner Shop am Strand gegangen. Ich habe ein Stück
Birnentorte gegessen und fand das sehr extravagant.«
    Ich
lächelte. »Und er war dein erster Freund?«
    Bildete
ich mir das kurze Zögern nur ein? »Ja.«
    »Du hast
einer anderen Frau den Mann ausgespannt.« Es war ein Scherz, der Versuch, es
leichthin zu sagen, aber im selben Moment, als ich die Worte aussprach, musste
ich an Juniper Blythe und Thomas Cavill denken, und meine

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