Morton, Kate
wäre inzwischen ein
erwachsener Mann, umgänglich und mit einem liebenswürdigen Lächeln und einem
Talent dafür, meine Mutter aufzumuntern. Der Daniel, den ich mir vorstelle,
weiß immer genau, was er sagen soll, er ähnelt nicht im Entferntesten seiner
bedauernswerten Schwester, die so oft kein vernünftiges Wort über die Lippen
bringt. Ich sah zu meiner Mutter hinüber und fragte mich, ob sie wohl auch an
ihn dachte, ob die Tatsache, dass sie in einem Krankenhaus saß, die Erinnerungen
an ihren kleinen Jungen weckte. Aber ich konnte sie nicht danach fragen, weil
wir nie über Daniel redeten, genauso wenig wie über ihre Evakuierung, ihre
Vergangenheit, ihre Enttäuschungen. Das war schon immer so gewesen.
Vielleicht
war es meine Traurigkeit darüber, dass in meiner Familie so viele Geheimnisse
so lange unter der Oberfläche gebrodelt hatten, vielleicht war es eine Art
Buße dafür, dass ich meine Mutter mit meinen bohrenden Fragen aus der Fassung
gebracht hatte, vielleicht hatte ich auch das vage Bedürfnis, eine Reaktion zu
provozieren, sie dafür zu bestrafen, dass sie mir Erinnerungen vorenthalten und
mir den wirklichen Daniel geraubt hatte ... Wie auch immer, ich holte tief Luft
und sagte: »Mum?«
Sie rieb
sich die Augen und schaute blinzelnd auf ihre Armbanduhr.
»Jamie und
ich haben uns getrennt.« »Ach?«
»Ja.«
»Heute?«
Ȁh, nein.
Nicht ganz. Um Weihnachten.«
Ein
verblüfftes »Oh«, dann zog sie die Brauen zusammen und zählte in Gedanken die
Monate, die seitdem vergangen waren. »Aber du hast gar nichts davon erwähnt
...«
»Nein.«
Diese
Tatsache, und was sie bedeutete, ließ ihre Gesichtszüge erschlaffen. Sie
nickte langsam, zweifellos dachte sie an die zahllosen Male, die sie sich
während der vergangenen Monate nach Jamie erkundigt hatte, an die Antworten,
die ich ihr gegeben hatte, lauter Lügen.
»Ich
musste die Wohnung aufgeben«, sagte ich und räusperte mich. »Ich bin auf der
Suche nach einem kleinen Apartment. Für mich allein.«
»Deswegen
konnte ich dich nicht erreichen, als dein Vater ... Ich habe alle Nummern
probiert, die ich hatte, selbst bei Rita habe ich angerufen, bis ich endlich
Herbert an der Strippe hatte. Ich wusste nicht, was ich sonst noch hätte
machen können.«
»Tja«,
sagte ich mit einer seltsam künstlichen Heiterkeit. »Zufällig war das genau das
Richtige. Ich wohne im Moment bei Herbert.«
Sie wirkte
verblüfft. »Er hat ein Gästezimmer?«
»Ein
Sofa.«
»Verstehe.«
Meine Mutter hatte die Hände auf ihrem Schoß verschränkt, als hielte sie ein
kleines Vögelchen darin, das sie beschützen musste, ein geliebtes Vögelchen,
das sie um keinen Preis verlieren wollte. »Ich muss Herbert eine Karte
schicken«, sagte sie mit dünner Stimme. »Er hat mir zu Ostern ein Glas von
seiner Johannisbeermarmelade zukommen lassen, und ich glaube, ich habe mich
nicht einmal dafür bedankt.«
Und damit
war das Gespräch, vor dem ich mich monatelang gefürchtet hatte, beendet.
Relativ kurz und schmerzlos, was ich gut fand, aber auch irgendwie seelenlos,
was ich nicht gut fand.
Meine
Mutter stand auf, und mein erster Gedanke war, dass ich mich getäuscht hatte,
dass es noch nicht vorbei war und sie mir doch noch eine Szene machen würde.
Aber als ich ihrem Blick folgte, sah ich, dass ein Arzt auf uns zukam. Ich
stand ebenfalls auf, versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, zu erraten, auf
welche Seite die Münze fallen würde, aber es war unmöglich. Sein
Gesichtsausdruck hätte zu jedem Szenario gepasst. Ich glaube, das lernen sie
schon im Medizinstudium.
»Mrs.
Burchill?« Er sprach mit einem leichten ausländischen Akzent.
»Ja.«
»Der
Zustand Ihres Mannes ist stabil.« Meine Mutter atmete erleichtert auf.
»Es ist
ein Glück, dass der Krankenwagen so schnell bei Ihnen war. Gut, dass Sie ihn
sofort gerufen haben.«
Ich hörte
einen leisen Schluckauf neben mir, dann sah ich, dass die Augen meiner Mutter
sich wieder mit Tränen gefüllt hatten.
»Wir
werden sehen, wie sich die Situation entwickelt, aber es sieht nicht so aus,
als müssten wir einen chirurgischen Eingriff vornehmen. Wir müssen ihn noch ein
paar Tage zur Überwachung hierbehalten, aber danach kann er sich zu Hause erholen.
Sie werden auf seine Stimmungen achten müssen. Herzpatienten neigen zu
Depressionen, aber da können Sie sich von den Krankenschwestern beraten
lassen.«
Meine
Mutter nickte dankbar. »Natürlich, natürlich«, stammelte sie, weil ihr ebenso
wie mir die Worte
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