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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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einen Zirkus zu
finden, dem es sich anschließen kann. Das ist sein Traum, und deswegen übt es
Balancieren. Kurz bevor es das andere Ende der Wanne erreicht, rutscht es aus.
Stürzt nach vorn, dreht sich, landet mit dem Gesicht unter Wasser. Sirenen,
grelles Licht, fremde Gesichter ...
    Ich
blinzelte, und das Bild verschwand, aber schon tauchte das nächste auf. Eine
Beerdigung, die meiner Großmutter. Ich sitze in der ersten Reihe neben meinen
Eltern und höre nur mit halbem Ohr zu, während der Pfarrer eine andere Frau beschreibt
als die, die ich kannte. Ich bin abgelenkt durch meine Schuhe. Sie sind neu,
und obwohl ich weiß, dass ich eigentlich besser zuhören, mich auf den Sarg
konzentrieren und mich ernsten Gedanken hingeben müsste, kann ich nicht aufhören,
meine Lackschuhe zu betrachten, sie hin und her zu drehen und ihren Glanz zu
bewundern. Mein Vater bemerkt es, schubst mich sanft mit der Schulter, und ich
zwinge mich aufzupassen. Auf dem Sarg stehen zwei Fotos, eins von der Großmutter,
die ich kannte, eins von einer Fremden, einer jungen Frau, die an irgendeinem
Strand sitzt, halb von der Kamera abgewendet, ein schiefes Lächeln im Gesicht,
als wollte sie gerade den Mund öffnen, um sich über den Fotografen lustig zu machen.
Dann sagt der Pfarrer etwas, und Tante Rita fängt an, laut zu weinen, die
Wimperntusche läuft ihr über die Wangen, und ich schaue erwartungsvoll zu
meiner Mutter hinüber, warte auf eine ähnliche Reaktion. Ihre behandschuhten
Hände liegen in ihrem Schoß, ihr Blick ist auf den Sarg geheftet, aber nichts
geschieht. Nichts geschieht, und dann sehe ich meine Kusine Samantha. Auch sie
beobachtet meine Mutter, und plötzlich schäme ich mich ...
    Ich stand
entschlossen auf und verscheuchte die schwarzen Gedanken. Meine Hosentaschen
waren ungewöhnlich groß, und ich schob meine Hände tief genug hinein, um mich
davon zu überzeugen, dass ich einen Grund hatte, hier zu sein, dann schritt ich
den Korridor ab, als handelte es sich um einen Museumssaal, und konzentrierte
mich auf die verblassten Poster mit Impfkalendern, die schon zwei Jahre alt
waren; egal, Hauptsache, es half mir, in der Gegenwart zu bleiben, weit weg von
der Vergangenheit.
    Ich bog um
eine Ecke in eine hell erleuchtete Nische, wo ein Getränkeautomat stand. Einer
von diesen Automaten mit einem Abstellplatz für die Tasse und einer Düse, aus
der entweder Kakao- oder Kaffeepulver oder heißes Wasser geschossen kommt, je
nachdem, auf welchen Knopf man drückt. In einem Plastikkörbchen lagen
Teebeutel. Ich nahm zwei und hängte sie in Styroporbecher, einen für mich und
einen für meine Mutter. Ich sah zu, wie die Beutel eine rostige Farbe abgaben,
ließ mir Zeit, Milchpulver einzurühren, wartete, bis es sich vollständig
aufgelöst hatte, ehe ich mich auf den Rückweg machte.
    Meine Mutter
nahm ihren Becher wortlos entgegen, fing mit dem Zeigefinger einen Tropfen auf,
der an der Seite herunterlief. Sie hielt den warmen Becher mit beiden Händen,
trank aber nicht. Ich setzte mich neben sie und dachte an gar nichts. Bemühte
mich, an nichts zu denken, während mein Gehirn mir vorauseilte, fragte mich,
warum ich so wenige Erinnerungen an meinen Vater hatte. Echte Erinnerungen,
nicht die aus zweiter Hand von Fotos und Familienanekdoten.
    »Ich habe
mich über ihn geärgert«, sagte meine Mutter schließlich. »Ich habe ihn
angeschrien. Ich hatte den Braten fertig, und ich hatte ihn auf den Tisch
gestellt, um ihn aufzuschneiden, und er wurde schon kalt, aber ich dachte, es
würde ihm recht geschehen, sein Fleisch kalt zu essen. Ich wollte nach oben gehen,
um ihn zu holen, aber ich hatte es satt, ihn immer vergebens zu rufen. Ich
dachte: Wollen wir doch mal sehen, wie dir der kalte Braten schmeckt.« Sie
schürzte die Lippen auf die Art, wie man es macht, wenn einem die Tränen kommen
und man versucht, das zu verbergen. »Er war den ganzen Nachmittag auf dem
Speicher gewesen, hatte Kartons aussortiert und den ganzen Flur vollgestellt -
weiß der Himmel, wie er die wieder da raufschaffen will, dazu hat er bestimmt
nicht mehr die Kraft ...« Sie schaute blind in ihren Tee. »Er ist ins Bad gegangen,
um sich die Hände zu waschen, und da ist es passiert. Ich habe ihn neben der
Badewanne gefunden, genau da, wo du damals gelegen hast, als du klein warst.
Er hatte noch die ganzen Hände voll Seife.«
    Das
darauffolgende Schweigen machte mich unruhig. Gespräche haben etwas
Beruhigendes, ihr geordneter Ablauf ist ein Anker, der

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