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Morton, Kate

Morton, Kate

Titel: Morton, Kate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fernen Stunden
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einen in der
Wirklichkeit hält: Nichts Schreckliches oder Unerwartetes kann passieren, wenn
man ein vernünftiges Gespräch führt. »Und dann hast du den Krankenwagen
gerufen«, soufflierte ich, als redete ich mit einem Kleinkind.
    »Die kamen
ganz schnell, das war ein Glück. Ich war noch dabei, ihm die Seife von den
Händen abzuwischen, da waren sie schon da. Zwei, ein Mann und eine Frau. Sie
mussten ihn reanimieren, mit so einem Elektroschockgerät.«
    »Mit einem
Defibrillator«, sagte ich.
    »Und sie
haben ihm etwas gegeben, ein Medikament, das die Blutgerinnsel auflöst.« Sie
betrachtete ihre Handflächen. »Er hatte noch sein Unterhemd an, und ich weiß
noch, wie ich gedacht habe, ich sollte ihm ein sauberes anziehen.« Sie
schüttelte den Kopf, und ich fragte mich, ob aus Bedauern darüber, dass sie es
versäumt hatte, oder aus Verwunderung darüber, dass ihr so etwas durch den Kopf
gegangen war, während ihr Mann bewusstlos auf dem Boden lag, doch dann sagte
ich mir, dass das eigentlich keine Rolle spielte und es mir nicht zustand,
darüber zu urteilen. Mir war schmerzlich bewusst, dass ich zu Hause gewesen
wäre und hätte helfen können, wenn ich nicht zu Tante Rita gefahren wäre, um
sie über die Vergangenheit meiner Mutter auszuquetschen.
    Ein Arzt
kam den Flur herunter, und meine Mutter verschränkte ihre Finger ineinander.
Ich wollte schon aufstehen, aber er ging zügig am Wartezimmer vorbei und
verschwand hinter einer anderen Tür.
    »Es wird
nicht mehr lange dauern, Mum.« Die unausgesprochene Entschuldigung machte
meine Worte schwer, und ich fühlte mich vollkommen hilflos.
     
    Es gibt
nur ein Foto von der Hochzeit meiner Eltern. Also, wahrscheinlich gibt es noch
mehr, die in irgendeinem vergessenen weißen Album verstauben, aber ich kenne
nur ein Bild, das all die Jahre überdauert hat.
    Nur die
beiden sind darauf zu sehen, es ist keins von diesen typischen Hochzeitsfotos,
auf denen die Angehörigen von Braut und Bräutigam rechts und links von dem Paar
aufgereiht stehen wie zwei ungleiche Flügel, sodass man denkt, das Geschöpf
wird niemals fliegen können. Auf diesem Foto sind keine Verwandten zu sehen,
nur die beiden, und sie schaut ihn völlig hingerissen an. Als würde er
strahlen, was er tatsächlich irgendwie tut - wahrscheinlich der Effekt der
Beleuchtung, die Fotografen damals benutzten.
    Und er ist
so unglaublich jung; das sind sie beide. Er hat immer noch volles Haar, nichts
deutet daraufhin, dass es ihm einmal ausfallen wird. Er ahnt noch nicht, dass
er einen Sohn bekommen und wieder verlieren wird, dass er eine Tochter haben
wird, deren Interessen und Neigungen ihm ein einziges Rätsel bleiben, dass
seine Frau irgendwann anfangen wird, ihn zu ignorieren, dass sein Herz eines
Tages aussetzen wird und man ihn in einem Krankenwagen in die Klinik bringen
wird, dass dieselbe Ehefrau zusammen mit der Tochter, die er nicht versteht,
im Wartezimmer sitzen und darauf warten wird, dass er aufwacht.
    Nichts von
alldem ist auf dem Foto zu erkennen. Das Foto ist ein eingefrorener Augenblick,
die ganze unbekannte Zukunft der beiden liegt noch vor ihnen, so wie es sein
sollte. Doch gleichzeitig lässt das Foto die Zukunft erahnen, oder zumindest
eine Version davon. Sie liegt in ihren Augen, vor allem in den Augen der Braut.
Denn der Fotograf hat mehr eingefangen als nur zwei junge Menschen am Tag
ihrer Hochzeit, nämlich eine Schwelle, die überschritten wurde, eine
Meereswelle, kurz bevor sie sich in Schaum verwandelt und gegen die Küste
schlägt. Und die junge Frau, meine Mutter, sieht mehr als nur den jungen Mann,
der neben ihr steht, den Mann, den sie liebt, sie sieht das ganze gemeinsame
Leben, das vor ihnen liegt...
    Aber
vielleicht verkläre ich da auch etwas, vielleicht bewundert sie nur sein Haar
oder freut sich auf das Fest oder die Hochzeitsreise ... Jeder spinnt seine
eigenen Geschichten um solche Fotos, Bilder, die innerhalb der Familie zu
Kultgegenständen werden, und während ich dort im Wartezimmer saß, wurde mir
bewusst, dass es nur eine Möglichkeit gab herauszufinden, was sie damals
wirklich empfunden hatte, was sie sich erhofft hatte, als sie ihn so anschaute;
ob ihr Leben komplizierter, ihre Vergangenheit komplexer war, als der selige
Blick vermuten ließ. Ich brauchte nur zu fragen. Wie seltsam, dass mir das
noch nie in den Sinn gekommen war. Wahrscheinlich ist das Licht im Gesicht
meines Vaters schuld. Die Art, wie meine Mutter ihn anschmachtet, lenkt die
Aufmerksamkeit

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