Morton, Kate
fehlten, um unsere Dankbarkeit und Erleichterung zum Ausdruck
zu bringen. Schließlich sagte sie einfach nur: »Vielen Dank, Herr Doktor«, aber
er hatte sich bereits hinter der schützenden Fassade seines weißen Kittels
zurückgezogen. Er nickte knapp, als würde er an einem anderen Ort erwartet, als
müsste er ein weiteres Leben retten, was zweifellos den Tatsachen entsprach,
und als hätte er bereits vergessen, wer wir waren und zu welchem Patienten wir
gehörten.
Ich wollte
gerade vorschlagen, dass wir zu meinem Vater gehen sollten, da fing sie an zu
weinen - meine Mutter, die niemals weint -, und zwar nicht nur ein paar
Tränen, die sie sich mit dem Handrücken wegwischte. Nein, sie begann laut zu
schluchzen, was mich daran erinnerte, wie sie, wenn ich als Kind wegen
irgendeiner Lappalie in Tränen ausgebrochen war, jedes Mal zu mir gesagt hatte,
manche Mädchen hätten das Glück, auch dann noch hübsch auszusehen, wenn sie
weinten - die Augen geweitet, die Wangen gerötet, die Lippen geschwollen -,
aber dass das weder auf sie noch auf mich zutraf.
Sie hatte
recht: Wir sind beide hässlich, wenn wir weinen. Zu fleckig im Gesicht, zu
triefige Nase, zu laut. Aber als ich sie so dastehen sah, so klein, so makellos
gekleidet, so kreuzunglücklich, wollte ich sie nur noch in die Arme nehmen und
sie festhalten, bis sie sich ausgeweint hatte. Doch ich tat es nicht.
Stattdessen kramte ich ein Papiertaschentuch aus meiner Tasche und reichte es
ihr.
Sie nahm
es, aber sie hörte nicht auf zu weinen, jedenfalls nicht sofort, und nach
kurzem Zögern legte ich ihr eine Hand auf die Schulter, tätschelte sie
irgendwie und rieb ihr den Rücken. So standen wir eine Weile, bis ihr Körper
sich ein bisschen entspannte und sie sich an mich lehnte wie ein Schutz suchendes
Kind.
Schließlich
putzte sie sich die Nase. »Ich hatte solche Angst, Edie«, sagte sie, während
sie sich nacheinander die Augen wischte und das Taschentuch auf
Wimperntuschespuren überprüfte.
»Ich weiß,
Mum.«
»Ich
glaube, ich könnte einfach nicht ... Wenn etwas passieren würde ... Wenn ich
ihn verlieren würde ...«
»Mum«,
sagte ich bestimmt. »Er hat es überstanden. Es wird alles gut.«
Sie
blinzelte mich an wie ein kleines Tier im Scheinwerferlicht. »Ja.«
Ich ließ
mir von einer Krankenschwester seine Zimmernummer geben, dann liefen wir durch
die grell erleuchteten Flure, bis wir es gefunden hatten. Kurz vor der Tür
blieb meine Mutter stehen.
»Was
ist?«, fragte ich.
»Ich
möchte nicht, dass dein Vater sich aufregt, Edie.«
Ich sagte
nichts, fragte mich jedoch, wie in aller Welt sie auf die Idee kam, dass ich
etwas tun könnte, was meinen Vater aus der Ruhe brachte.
»Er wäre
entsetzt, wenn er wüsste, dass du auf einem Sofa schläfst. Du weißt doch, wie
sehr er immer um deine Haltung besorgt ist.«
»Es ist ja
nicht für lange.« Ich schaute zur Tür. »Wirklich, Mum, ich arbeite dran. Ich
lese jede Woche die Vermietungsanzeigen, aber bisher habe ich einfach noch
nichts Geeignetes ...«
»Unsinn.«
Sie glättete ihren Rock und holte tief Luft. Wich meinem Blick aus, als sie
sagte: »Du hast ein vollkommen geeignetes Bett zu Hause.«
Endlich wieder zu Hause
U nd so kam es, dass ich mit dreißig Jahren wieder
als Single in mein Elternhaus zog. Ich wohnte in meinem ehemaligen Kinderzimmer
und schlief in meinem viel zu kleinen Bett unter dem Fenster mit Blick auf das
Beerdigungsinstitut Singer & Sons. Eine Verbesserung immerhin im Vergleich
zu meiner bisherigen Situation. Ich mag Herbert sehr, und ich verbringe gern
viel Zeit mit der guten alten Jess, aber der Himmel bewahre mich davor, jemals
wieder ein Sofa mit ihr teilen zu müssen.
Der Umzug
selbst ging ziemlich unspektakulär über die Bühne, denn ich nahm nicht viel
mit. Es war eine vorübergehende Lösung, wie ich jedem erklärte, der es wissen
wollte, es war also viel vernünftiger, meine Umzugskartons auf Herberts
Speicher stehen zu lassen. Ich packte einen einzigen Koffer, und als ich zu
meinen Eltern kam, fand ich alles ungefähr in demselben Zustand vor, wie ich
es zehn Jahre zuvor zurückgelassen hatte.
Unser Haus
im Stadtteil Barnes stammt aus den Sechzigerjahren, und meine Eltern hatten
den Neubau gekauft, als meine Mutter mit mir schwanger war. Was einem in dem
Haus als Erstes auffällt, ist, dass nirgendwo etwas herumliegt. Wirklich
nichts. Im Haushalt der Burchills gibt es für alles ein System: mehrere Körbe
für die schmutzige Wäsche,
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