Morton Rhu - Leben und Werk
nicht etwa Armut oder Perspektivlosigkeit die Hauptgründe für ein Leben auf der Straße, sondern familiäre Probleme. Laut der Daten des NRS sind 85 Prozent aller amerikanischen Straßenkinder Opfer sexueller Gewalt im Familienkreis. Sobald sie länger auf der Straße gelebt haben, wird es für die meisten sehr schwer, wieder in ein normales Leben zurückzufinden. Denn zu ihren Eltern zurück wollen die allerwenigsten und auch das Leben in Heimen ist für die meisten unerträglich.
Daher versuchen Straßenkinder irgendwie zurechtzukommen, oft indem sie Drogen oder auch ihren Körper verkaufen. Doch viele überleben den Kampf gegen Kälte, Hunger und Verzweiflung nicht. In den USA sterben jedes Jahr 5.000 Straßenkinder, das sind vierzehn jeden Tag – und das in einem der reichsten Länder der Welt.
Diesen Straßenkindern, den wohl schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft, hat Morton Rhue seinen Roman gewidmet. Dabei erhebt er den Anspruch, mit seinen Büchern etwas verändern zu wollen: »Also, ich glaube, ich bin nur einer von vielen Leuten, die sich Gedanken machen, aber ich habe natürlich ein Forum in meinen Lesern und ich kann auf solche Dinge aufmerksam machen. Ich schreibe für junge Leute, weil bei ihnen die Zukunft liegt und weil sie in die Welt noch hineinwachsen«, sagte er in einem Interview mit Deutschlandradio im Januar 2009.
Wenn die Menschenwürde fehlt
»Asphalt Tribe« ist zwar chronologisch erzählt, hat aber keinen durchgehenden Plot, dem die Geschichte folgt. Es sind Ausschnitte aus dem harten Leben der Straßenkinder, die der Leser in stilistisch recht roher Form vorgesetzt bekommt. Zusammengehalten werden diese Ausschnitte durch die fünfzehnjährige Maybe, die als Chronistin und Ich-Erzählerin der Ereignisse auftritt.
Maybe ist vor den Misshandlungen ihrer alkoholabhängigen Mutter davongelaufen und hat sich in New York einer Gruppe von Straßenkindern, dem Asphalt Tribe, angeschlossen. Am Anfang des Buches besteht der Asphalt Tribe aus sieben Mitgliedern: Der inoffizielle Anführer ist Maggot, die Made. Durch ihn kommt der Asphalt Tribe zusammen. Er gibt sich als überzeugter Anarchist und schimpft ständig auf die normale »Spießergesellschaft.« Allerdings erscheint er nicht besonders glaubwürdig, denn als ihm der Winter zu hart wird, geht er zu seinen reichen Eltern zurück. Der Älteste der Gruppe ist mit zweiundzwanzig Jahren OG – er lebt schon lange auf der Straße und wird gegen Ende des Romans schwer krank. Maybes beste Freundin Rainbow ist drogensüchtig. Sie hat Depressionen und begeht schließlich Selbstmord. 2Moro wurde als Kind sexuell missbraucht und ist seit ihrem achten Lebensjahr HIV -positiv. Sie wird später als erdrosselte Leiche aufgefunden, wahrscheinlich von einem ihrer Freier getötet. Der Transvestit Jewel träumt von einer Zukunft als Leinwand- oder Bühnenstar, während er seinen langsam verfallenden Körper an ältere Männer verkauft. Die jüngste der Gruppe ist die zwölfjährige Tears, die wegen Missbrauch durch den Freund ihrer Mutter von zu Hause weggelaufen ist.
Ein weiteres Mitglied ist Country Club, den der Leser zu Beginn des zweiten Kapitels durch einen Steckbrief kennenlernt. Diese Art Steckbriefe heben sich durch ihre Amtssprache vom Rest des Romans ab und kommen insgesamt viermal vor: immer dann, wenn ein Mitglied des Asphalt Tribe stirbt. Nach Country Club, der OG s bester Freund war, folgen 2Moro, Rainbow und schließlich der Hund Pest – … gekauft in einer Tierhandlung als Weihnachtsgeschenk. Ein paar Monate lang heiß geliebt, dann aber nicht ganz stubenrein, zerbiss Schuhe. In einem Park bei Greenwich, Connecticut, »verloren gegangen«. Später in New York City aufgetaucht. Von einem Straßenkind namens OG adoptiert. Gestorben mit 14 Monaten. Todesursache: Unterernährung.
Auch wenn sich die Geschichten der Straßenkinder zum Teil ähneln, so wird doch bald klar, dass sie alle sehr verschiedene Menschen mit eigenen Träumen und Hoffnungen sind. Diese Träume können sich auf ein schönes Reihenhaus beschränken. Oder wie bei Maybe darauf, irgendwann einmal das echte, weite Meer zu sehen.
»Ich sehe furchtbar aus! Ekelhaft! Ich halte das nicht mehr aus!« Rainbow lachte wie verrückt, als sie mich die Straße runter hinter sich herzog.
»Ich finde dich schön«, sagte ich.
»Ach, Maybe, was weißt du schon? Du bist ja sogar noch dreckiger als ich. Und wie du stinkst!«
»Echt?« Rainbow hatte Recht. Aber ich mochte nicht,
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