Moskauer Diva
fähig.«
Was tue ich hier, fragte sich Fandorin. Ich setze das Leben eines Dilettanten aufs Spiel. Und das alles nur, weil ich so idiotisch sauer bin auf Masa. Vielleicht sollte ich die Operation lieber abbrechen, solange es noch nicht zu spät ist?
»Schon gut, Disziplin ist nun mal Disziplin. Der Befehl wird ausgeführt.« Dewjatkin seufzte. »Aber versprechen Sie mir eines: Wenn Sie Hilfe brauchen, signalisieren Sie das mit einem Sucharew-Pfiff, und ich bin unverzüglich zur Stelle.«
»Ausgezeichnet. A-abgemacht. Wenn ich nicht pfeife, heißt das, ich benötige Sie nicht«, sagte Fandorin erleichtert. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Es wird keine Komplikationen geben. Vertrauen Sie meiner Erfahrung.«
»Sie sind der Kommandeur, Sie müssen es wissen«, erwiderte der abgedankte Fähnrich knapp, und Erast Petrowitsch war fast beruhigt.
Nach den Regeln der Psychologie musste er nun, um überflüssigeNervosität abzubauen, das Gespräch auf ein abstraktes Thema lenken. Sie hatten noch rund zehn Minuten Fahrt durch den Sokolniki-Park vor sich. Nieselregen setzte ein – das war günstig für ihre Operation.
»Ich finde es seltsam, dass ein Mann Ihres Schlages den Militärdienst der Bühne wegen aufgegeben hat«, sagte Fandorin in leichtem Plauderton, als seien sie unterwegs zu einem gesellschaftlichen Ereignis. »Die Uniform stand Ihnen bestimmt gut, und eine militärische Karriere passt wunderbar zu Ihrem Charakter. Sie sind doch ein Idealist, ein Romantiker. Das Dasein eines Theaterregisseurs, wie Sie einer werden wollen, läuft im Grunde auf äußerst p-prosaische Dinge hinaus: ob ein Stück gut ist, ob es Kasse macht, ob das Publikum Ihre Schauspieler mag. Den Status eines Theaters bestimmt nicht das Niveau der Kunst, sondern der Preis für eine Karte. Noah Nojewitsch oder auch Stanislawski gelten als Genies, weil auf Ihren Plakaten steht: ›Erhöhte Kartenpreise‹.«
Die Ablenkung durch ein entlegenes Thema war gelungen. Dewjatkin rief hitzig: »Oh, Sie irren sich! Ich bin mit Leib und Seele Theatermensch. Für mich ist einfach die ganze Welt eine Bühne, für mich ist die Bühne das Zentrum des Weltgebäudes, sein ideales Modell, ohne niederes und unnötiges Beiwerk! Ja, alles darin hat, ebenso wie in der gewöhnlichen Welt, seinen Preis. Aber es ist eben ein
erhöhter
Preis. Er ist höher als der Preis der erbärmlichen Wirklichkeit. Wenn ich auf der Bühne stehe, existiert alles andere nicht mehr! Dann hat nichts Bedeutung – nicht die Zuschauer im Saal, nicht die Stadt hinter den Mauern des Theaters, nicht das Land, nicht der Erdball! Das ist wie die wahre Liebe, wenn man nur eine einzige Frau auf der Welt begehrt. Man bereit ist, in ihr die ganze Menschheit zu lieben, doch ohne sie ist für einen die ganze Menschheit nichts wert und bedeutet einem nichts.«
»Sie übertreiben ein wenig, aber ich v-verstehe, was Sie meinen«, bemerkte Erast Petrowitsch düster.
Dewjatkin knurrte: »Ich übertreibe nie. Ich bin ein exakter Mensch.«
»Nun, dann führen Sie exakt das aus, was wir abgesprochen haben. Wir sind da. Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Sie mussten ziemlich weit laufen. Vom Sokolniki-Prospekt zum Hirsch-Haus führte eine lange Allee. Sie mit dem Auto entlangzufahren war selbstredend ausgeschlossen – in der nächtlichen Stille hätte der Motorenlärm die Wachposten alarmiert. Sie liefen schweigend. Jeder dachte an das Seine. Aber vielleicht dachten sie auch beide an ein und dasselbe, überlegte Fandorin plötzlich. Das heißt an
ein und dieselbe
.
Wegen der tiefhängenden Wolken und des unablässigen Nieselregens war der Weg kaum zu erkennen. Und Fandorin hütete sich, die Taschenlampe einzuschalten. In der dichten Finsternis war selbst ein schwaches Licht weithin zu sehen. Sie orientierten sich an den Silhouetten der Pappeln beiderseits der Allee. Sie gingen zwar nebeneinander, aber nicht im gleichen Schritt. Plötzlich schrie Dewjatkin dumpf auf und verschwand – buchstäblich. In der Tiefe.
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich bin hier …«
Der Kopf mit der Schirmmütze tauchte unmittelbar aus dem Boden auf.
»Hier ist ein Graben. Geben Sie mir die Hand …«
Quer über den Weg verlief tatsächlich ein schmaler Graben. Auf der Fahrbahn war er mit Brettern abgedeckt, am Straßenrand jedoch, den die beiden Komplizen benutzten, offen. Erast Petrowitsch hatte Glück gehabt – er hatte ihn überschritten, ohne ihn wahrzunehmen, George dagegen war genau hineingetreten.
»Halb so
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