Moskauer Diva
schlimm, mir ist nichts passiert.« Der Assistent kroch ächzend heraus. »Ich danke Ihnen.«
Der kleine Zwischenfall hatte Dewjatkin anscheinend nicht ausdem Gleichgewicht gebracht. Erast Petrowitsch zollte den Nerven des einstigen Offiziers Anerkennung. Der klopfte sich die Kleider ab und sagte nachdenklich: »Noch vor kurzem hätte ich diesen Sturz als böses Omen gesehen, als ein Zeichen dafür, dass das Schicksal mir nicht wohlgesinnt ist. Erinnern Sie sich, ich sagte Ihnen, ich sei gewohnt, mich stets dem Fatum anzuvertrauen. Aber ich habe meine Ansichten geändert. Daran, dass Sie über den Graben geschritten sind, ich dagegen hineingefallen bin, ist nichts Schicksalhaftes. Sie haben einfach mehr Glück als ich. Wissen Sie, inzwischen denke ich, dass es gar kein Schicksal gibt. Das Schicksal ist blind. Sehend ist nur der Künstler! Alles entscheidet und bestimmt dein eigener Wille.«
»Ich bin mehr oder weniger derselben Ansicht, aber wenn Sie Ihre T-toilette wieder in Ordnung gebracht haben, sollten wir weitergehen. Und schauen Sie um Gottes willen, wo Sie hintreten!«
Als in der Ferne, mitten auf einer kleinen Lichtung, ein Haus mit trübe erleuchteten Fenstern sichtbar wurde, wechselte Fandorin vom Straßenrand ins Gebüsch. Er wollte diese unkomplizierte, aber sich in die Länge ziehende Angelegenheit so rasch wie möglich zu Ende bringen.
»Bleiben Sie hier«, flüsterte er Dewjatkin am Rande der Lichtung zu, hinter einer alten Birke. »Hier haben Sie meine Uhr, sie hat phosphoreszierende Zeiger. Genau fünf Minuten.«
»Zu Befehl.«
George schwenkte munter die Pistole.
Fandorin legte Lederjacke und Kappe ab und trug nun nur noch ein schwarzes Gymnastiktrikot. Er duckte sich, lief auf die Lichtung, dann streckte er sich flach auf dem Boden aus und kroch weiter, wobei er die Sekunden zählte. Bei zweihundert hatte er bereits die richtige Position erreicht, fünfzehn Schritte entfernt von der Treppe, wo sich ein Wachposten langweilte.
Der Plan der Ablenkung der Pinscher war äußerst primitiv, denn Fandorin hielt sich stets an die Regel: Man sollte nichts komplizierter machen als nötig. Seine Gegenspieler waren keine Spione und keine Staatsgegner, nicht einmal eine Bande von Mördern. Diese kleinen Gauner waren nicht darin geübt, Krieg zu führen, es war leicht vorherzusehen, wie sie sich in einer kritischen Situation verhalten würden. Offenbar hatte Zarkow keine Angst vor einem direkten Überfall, sonst hätte er sich nicht an einem so einsamen Ort niedergelassen. Als Garant für ihre Sicherheit betrachteten er und Swist die Mobilität des Kontors und seine Lage weitab von den belebten Stadtvierteln. Umso überraschter würden die Herren über einen Besuch der Sucharew-Bande sein, die sie für besiegt hielten.
Wenn ihn nur der »Theatermensch« nicht im Stich ließ.
Das tat er nicht. Als Fandorin bis dreihundert gezählt hatte, ertönte aus dem Gebüsch ein gellender Pfiff. Der fixe George pfiff sogar in drei verschiedenen Tonlagen, als wären mehrere Mitglieder der Sucharew-Bande in der Nähe. Genau so wären Zirkatschs Leute vorgegangen, hätten sie herausgefunden, wo sich das Kontor befindet, und im Rausch mitten in der Nacht beschlossen, mit ihren Beleidigern abzurechnen. Sie wären mit Droschken zum Park gefahren, doch in unmittelbarer Nähe des Kontors hätte sich ihr Kampfgeist verflüchtigt. Für drohende Pfiffe aus dem Gebüsch hätte ihr Mut gereicht, aber keiner von ihnen hätte sich auf offenes Gelände, ins Schussfeld der Pinscher gewagt.
Der Wachposten stürmte die Treppe herunter und riss seinen Revolver aus der Tasche. Offenbar hatte Mr. Swist nicht eben schüchterne Burschen engagiert. Im Gebüsch knallten zwei Schüsse – Dewjatkin spielte seine Rolle tadellos. Der Pinscher feuerte aufs Geratewohl. Gott sei Dank nicht in die Richtung, wo sich der Assistent versteckte.
Aus dem Haus kamen mit gezückter Waffe die übrigen vier gelaufen.
»Wo sind sie? Wo?«, riefen die Wachen.
Mr. Swist trat aus der Tür – ohne Jackett, mit Hosenträgern. Oben wurde krachend ein Fenster geöffnet. Zarkow schaute heraus. Er trug Schlafrock und Nachtmütze.
»Es ist nichts weiter, Awgust Iwanytsch!« rief Swist hinauf. »Die Sucharewer spielen verrückt. Denen werden wir eine Lehre erteilen. Gescheckter, du bleibst hier. Alle anderen – vorwärts! Versohlt ihnen den Hintern!«
Vier Pinscher stürmten voran, wild um sich schießend. Auch im Gebüsch krachte ein Schuss – bereits
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