Moskauer Diva
Papier waren Summen verzeichnet, von fünfzig bis zu zweihundert Rubeln. Einige davon waren durchgestrichen und mit dem Vermerk begl. versehen. An einer Stelle stand: Blumenstrauß für 25 Rub. Die letzten beiden Einträge lauteten:4. 10. Verhältnis mit Altaïrskaja-Lointaine (?). Vorschlag unterbreiten.
5. 10. Er hat abgelehnt. Maßnahmen ergreifen.
Nun, das war es dann wohl. Das Gerücht, Limbach sei Elisas Liebhaber geworden, hatte Zarkow wahrscheinlich beunruhigt. Die Geschichte mit Smaragdow zeigte, dass der Untergrundgeschäftsmann sehr auf diese Schauspielerin setzte. Genau wie der Millionär Schustrow hielt er sie offensichtlich für sehr vielversprechend. (Dieser Gedanke freute Fandorin: Immerhin hatte ihm nicht eine gewöhnliche Kokotte den Verstand geraubt, sondern eine große Schauspielerin, eine wirklich herausragende Frau.) War der unberechenbare und für Elisa gefährliche Partner einfach beseitigt worden, so hatte man dem aufdringlichen Kornett zunächst »einen Vorschlag« unterbreitet: Vielleicht, dass seine Schuld als beglichen gelte, wenn er die Schauspielerin in Ruhe ließe. Oder im Gegenteil: Limbach sollte Informant werden und Zarkow über Verhalten und Stimmungen der Diva unterrichten. Vor dem Theater war Fandorin zufällig Zeuge dieser Auseinandersetzung (oder einer davon) geworden. Limbach hatte sich geweigert (»Ich bin Offizier der kaiserlichen Garde!«). Das nächste Gespräch mit Mr. Swist hatte mit einem Streit und einem Messer geendet.
Für alle Fälle warf Erast Petrowitsch auch einen Blick in das Fach Schauspieler, fand jedoch dort nichts über Smaragdow. Was nicht weiter verwunderlich war – wozu ein Dossier über jemanden aufheben, der längst auf dem Friedhof lag?
Er konnte sich nicht beherrschen und griff nach Elisas Mappe. Er erfuhr einiges Neues über sie. Zum Beispiel ihren Geburtstag (1. Januar 1882); in der Spalte Vorlieben stand: Parfüm mit Parmaveilchen-Duft, die Fabe Lila; kein Geld schicken, keine silbernen Vasen; mag Elfenbein. Er erinnerte sich, dass sie oft raffinierte Spangen aus etwas Weißem im Haar trug. Und der Veilchenduft, den er für ihren natürlichen Duft gehalten hatte, kam also voneinem Parfüm? Bei der Spalte Liebhaber runzelte Fandorin die Stirn. Dort standen zwei Namen. Der erste, sein eigener, war durchgestrichen, der zweite, Limbach, mit einem Fragezeichen versehen.
Doch das alles waren Lappalien ohne jede Bedeutung. Das Wichtigste war – seine Hypothese hatte sich bestätigt, er konnte also den nächsten Schritt tun und zur direkten Klärung schreiten.
Sollten die Pinscher mitten im Gespräch zurückkehren, wäre das nicht weiter schlimm. Diese Kleinganoven waren für einen echten Profi keine ernsthafte Gefahr. Trotzdem legte Erast Petrowitsch seinen kompakten flachen Browning auf den Tisch und deckte ihn mit einem Blatt Papier zu. Er setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander, zündete sich eine Zigarre an, und dann rief er laut: »He, Sie da oben! Genug geflüstert! Kommen Sie herunter!«
Das undeutliche Gemurmel im ersten Stock verstummte.
»Hurtig, meine Herren! Ich bin’s, Fandorin!«
Krachend fiel ein Stuhl um. Polternde Schritte auf der Treppe. Swist kam ins Büro gestürmt, eine Mauser in der Hand. Beim Anblick des friedlich paffenden Besuchers erstarrte er. Zarkow tauchte hinter dem Rücken seines Gehilfen auf – noch immer im Schlafrock, aber ohne Nachtmütze, die Glatze umrahmt von zerzaustem Haar.
»Setzen Sie sich, Awgust Iwanowitsch«, sagte Fandorin friedfertig, ohne die Mauser zu beachten. Seine entspannte Pose täuschte: Bei der geringsten Regung von Mr. Swists Zeigefinger wäre der Sessel sofort leer gewesen. Die Kugel hätte das Polster getroffen. Die schwierige Kunst des blitzschnellen Ortswechsels hatte sich Erast Petrowitsch einst perfekt angeeignet und bemühte sich, stets in Form zu bleiben.
Nach einem vielsagenden Blick auf seinen Assistenten trat der Herrscher über die Vergnügungswelt von ganz Moskau vor und stellte sich vor den ungebetenen Gast. Swist zielte noch immer auf den Sitzenden.
Umso besser. Das Gegenüber sollte sich ruhig in der Illusion wiegen, die Situation zu beherrschen und das Gespräch jederzeit abbrechen zu können – auf für Fandorin fatale Weise.
»Ich habe Ihren Besuch erwartet. Allerdings unter weniger extravaganten Umständen.« Zarkow wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster, durch das noch immer Schüsse zu hören waren, wenn auch seltener. »Mir ist bekannt,
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