Moskauer Diva
moralische Skrupel, ohne Rücksicht auf christliche Gebote. Damit er niemanden mehr beißen kann.
Und das Wunderbarste war, dass man sie für diese Tat nicht zur Verantwortung ziehen würde. Das heißt, es würde natürlich einen aufsehenerregenden Prozess geben, mit Geschworenen, mit Gedränge im Saal, mit Journalisten. Der Gedanke an einen Gerichtsprozess schreckte Elisa nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Sorgfältig arrangierte nachlässige Frisur, einfache, effektvolle Kleidung – Trauer mit einem leichten Schimmer von Stahl, wie es sich für eine Siegerin geziemt. Zweifellos würde man sie freisprechen. Zweifellos würde der Fall in ganz Europa Aufsehen erregen. Zweifellos hatte keine Sarah Bernhardt und keine Eleonora Duse von einem solchen Ruhm auch nur träumen können!
Das alles war ganz wunderbar, theatralisch, der Beifall war garantiert. Aber erst einmal musste sie ja einen Menschen töten. Nicht,dass Dshingis Khan Elisa leid getan hätte, o nein. Für sie war er kein Mensch – er war eine hässliche Anomalie, ein Krebsgeschwür, das so rasch wie möglich entfernt werden musste. Aber wie man tötete, davon hatte Elisa keine Ahnung. Auf der Bühne hatte sie es schon viele Male getan – zum Beispiel als Gräfin de Terroir in Sardous »Thermidor«. Da war alles ganz einfach gewesen: Sie hob die Hand mit der Pistole, hinter den Kulissen schlug ein Bühnenarbeiter auf ein Blech, und der grausame Kommissar des Konvents fiel mit einem Schrei zu Boden. Aber im Leben war es bestimmt schwieriger.
Elisa begriff, dass sie es ohne einen Berater oder Sekundanten, kurz, ohne einen Helfer nicht schaffen würde. Sie ging im Kopf mögliche Kandidaten durch. Erast fiel von vornherein weg. Ihm hatte sie in ihrem Stück eine ganz andere Rolle zugedacht: die des Beschämten, des Bewunderers, des Mannes, dem verziehen wurde.
Gasonow? Zu auffällig mit seinem asiatischen Aussehen. Außerdem war auch er jetzt eine Berühmtheit. Sie wollte den Ruhm nicht mit einem anderen Schauspieler teilen.
Wassja? In dem japanischen Stück war er zwar ein kühner Fechter, aber im Leben ein Waschlappen. Wahrscheinlich hatte er noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. Ein Soldat wäre gut …
George? Erstens war er Offizier gewesen. Zweitens liebte er sie treu und ohne Ansprüche zu stellen. Drittens war er ein echter Ritter, ein Mann der Ehre. Viertens – ein Held, sie musste nur daran denken, wie er die Schlange gepackt hatte, br-r-r. Er war nicht schwatzhaft. Und, was auch wichtig war, daran gewöhnt, stets im Schatten zu bleiben.
Am nächsten Tag zog sie sich mit Dewjatkin in eine leere Loge zurück, ließ ihn schwören, dass er schweigen würde, und erzählte ihm alles. Er hörte ihr mit flammendem Blick zu, knirschte sogar hin und wieder kämpferisch mit den Zähnen, weil der Schurke ihr so viel Kummer bereitet und ungestraft fünf vollkommen Unschuldigegetötet hatte. Dewjatkin zweifelte keinen Augenblick an Elisas Geschichte, wofür sie ihm besonders dankbar war.
»So ist das also …«, flüsterte der Assistent und schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Ach, so ist das alles … Böses Schicksal, Fatum! Nun verstehe ich. Und wir …«
»Wer – wir?«, fragte Elisa misstrauisch. »Von wem reden Sie?«
»Das tut nichts zur Sache. Ich habe mein Ehrenwort gegeben, ich muss schweigen.« George legte die Hand an die Lippen. »Aber ich bin Ihnen unendlich dankbar für Ihr Vertrauen. Sie müssen mir nicht mehr erzählen. Ist Ihnen die Adresse bekannt, unter der ich diesen Unmenschen finden kann? Keine Sorge, ich werde ohne Polizei auskommen. Ich werde ihn zum Duell fordern, auf zwei Schritt, mit Los, ohne Chance. Und wenn er sich weigert, töte ich ihn gleich auf der Stelle!«
Genau das war Elisas Befürchtung.
»Ich muss ihn selbst vernichten. Mit eigenen Händen. Das fehlte noch, dass Sie meinetwegen zu Zwangsarbeit verurteilt werden!«
Er funkelte mit den Augen.
»Gnädige Frau, für Sie würde ich nicht nur die Zwangsarbeit auf mich nehmen, für Sie würde ich … würde ich die ganze verfluchte Welt vor dem Untergang retten!« Er breitete die Arme zum Saal hin aus – so lächerlich, so rührend. »Ach, wenn sich Ihre Augen öffnen, wenn Sie sehen würden, wie ich wirklich bin! Wenn Sie mich lieben könnten – das würde alles ändern!«
»Noch nie hat mir jemand außer auf der Bühne so …«, Elisa fand nicht gleich das richtige Wort, »so imposant seine Liebe erklärt. Sie sind mein Ritter, ich bin Ihre
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