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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Mantel erst jetzt entdeckt. Er grinste unter seinem schwarzen Schnauzbart.
    Sie schrie auf. Und beschleunigte ein wenig ihre Schritte.
    Das Klappern der Absätze hinter ihr wurde ebenfalls schneller.
    Bloß niemanden treffen, der hinter ihm geht, dachte Elisa. Sie zählte in Gedanken bis fünf. Blieb stehen.
    »Peiniger! Unmensch!«, schrie sie durchdringend. »Ich halte es nicht mehr aus!«
    Vor Überraschung sprang Dshingis Khan zur Seite. Nun konnte sie schießen, hinter ihm lag der dunkle, menschenleere Platz.
    »Gott ist mein Richter!«, improvisierte Elisa. »Mag ich ruhig sterben, aber auch du wirst für immer verschwinden!«
    Elegant riss sie die Pistole aus dem Muff und trat einen Schritt vor. Ihre Hand zitterte nicht, die erhabene schauspielerische Leidenschaft machte jede Bewegung perfekt.
    Khan zuckte zusammen und ließ den Zylinder fallen.
    »Stirb, Satan!«
    Sie legte all ihre Kraft in den Zeigefinger und drückte, aber es kam kein Schuss. Sie drückte wieder und wieder – der Abzugshahn rührte sich nicht.
    »Entsichern, entsichern!«, zischte Dewjatkin hinter ihr.
    Elisa wurde schwarz vor Augen. Was für ein Reinfall!
    Die Verehrer schrien, schwenkten die Arme. Auch Dshingis Khan kam wieder zu sich. Er zückte keine Waffe. Er schlug einfach den Kragen hoch, drehte sich um und trabte im Laufschritt davon, bis ihn die Dunkelheit verschlang.
    Wieder flammte ein Blitzlicht auf. Die Kamera hielt Elisa Altaïrskaja-Lointaine in einer effektvollen Pose fest: mit ausgestrecktem Arm, in der Hand eine Pistole.
    »Bravo! Ist das aus der nächsten Inszenierung?«, lärmten die Verehrer.
    »Wie originell!«
    »Wir beten Sie an!«
    »Ich habe keine einzige Ihrer Vorstellungen versäumt!«
    »Ich bin Ihre Verehrerin!«
    »Ich bin Reporter der Abendzeitung, erlauben Sie eine Frage!«
    »Was war das?«, fragte Elisa in drohendem Flüsterton ihren Sekundanten. »Warum hat sie nicht geschossen?«
    »Sie haben sie nicht entsichert …«
    »Wie – entsichert? Was ist das?«
    George nahm ihren Arm und führte sie weg.
    »Ich bitte Sie! Wir haben doch im Keller geübt … Sie haben es gesehen! Und ich habe Sie noch einmal daran erinnert …«
    »Ich erinnere mich nicht. Ich war aufgeregt. Und außerdem – als ich mit dem Nagant geschossen habe, musste ich nichts entsichern.«
    »Mein Gott, jeder Gymnasiast weiß, dass eine Pistole im Gegensatz zu einem Revolver einen Sicherungshebel besitzt, hier!«
    »Ich bin kein Gymnasiast!« Elisa schluchzte hysterisch. »Das ist Ihre Schuld! So etwas nennt sich Sekundant! Sie haben es mir nicht richtig erklärt! Mein Gott, nun schicken Sie doch endlich die Leute weg! Und gehen Sie auch! Ich will niemanden sehen!«
    Sie lief weg, sich an ihren Tränen verschluckend. Dewjatkin blieb gehorsam zurück.
    »Frau Altaïrskaja ist müde! Ich bitte um Ihr Taktgefühl«, vernahm sie seine Stimme hinter sich. »Kommen Sie zur Vorstellung, Herrschaften! Lassen Sie den Schauspielern ihr Privatleben!«
     
    Die Welt des Theaters ist voll von Geschichten und Legenden über beschämende, ungeheure Misserfolge. Jede Schauspielerin, selbst die berühmteste, kennt den Alptraum, dass sie ihren Text vergisst oder einen furchtbaren Fehler macht, und der Saal reagiert darauf mit unheilvollem Schweigen, Pfiffen, Gezischel, klappenden Sesseln. Elisa war überzeugt gewesen, dass ihr so etwas nie passieren würde. Aber beim wichtigsten Auftritt ihres Lebens hatte sie schmählich versagt. Blind den Hotelflur entlangtrottend, dachte sie nicht an die Folgen ihres Angriffs auf Dshingis Khan (denn er würde zweifellos welche haben), sondern an ihre hoffnungslose Nutzlosigkeit.
    Das Leben war keine Bühne. Kein Bühnenarbeiter schlug hinter den Kulissen gegen Metall, damit der Schuss ertönte, und derSchurke fiel nicht von selbst um. Kein rettender Vorhang verbarg sie vor dem tobenden Publikum. Sie konnte nicht einfach das Kostüm ablegen und sich abschminken.
    Ich bin unbegabt, mein Leben ist sinnlos, ich habe mein Los verdient. Wie ein aufgeplusterter Vogel saß Elisa, ohne den Hut abzunehmen, im dunklen Zimmer, niedergeschmettert und entkräftet. Sie merkte gar nicht, wie sie einschlief.
    Sie wurde von einem schrecklichen Traum heimgesucht. Sie sitzt in ihrer Garderobe, alle Wände sind mit Spiegeln bedeckt, sie will sich anschauen – aber sie sieht kein Spiegelbild. Wohin sie sich auch wendet, in welchen Spiegel sie auch blickt – er ist leer. Irgendwo seitlich schimmert etwas Schwarzes, aber sie kann es

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