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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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nicht fassen. Sie sitzt da, dreht den Kopf, immer schneller und schneller, nach rechts, nach links, nach rechts, nach links, aber nirgends sieht sie eine Elisa. Ich habe mein Kostüm ausgezogen und mich abgeschminkt, und ohne Rolle existiere ich nicht, begreift sie, und das ist so beängstigend, dass sie stöhnend und unter Tränen erwacht.
    Hätte die Sonne ins Fenster geschienen, wäre ihr vielleicht leichter ums Herz geworden. Aber die schmutziggraue Novemberdämmerung war schlimmer als nächtliche Dunkelheit, und von der unbequemen Haltung war ihr ganzer Körper steif. Elisa fühlte sich unsauber, ungesund und
alt
. Voller Angst sah sie sich im Zimmer um. Die aus dem Halbdunkel hervortretenden Konturen der Gegenstände flößten ihr Furcht ein. An der Wand schimmerte ein großer Spiegel, aber Elisa hätte um keinen Preis gewagt, jetzt hineinzuschauen. Die reale Welt bedrängte sie von allen Seiten, sie war bedrohlich und unvorhersagbar, Elisa verstand die Entwicklung ihrer Fabel nicht und wagte nicht zu prophezeien, wie sie ausgehen würde.
    Sie sprang auf und rannte ziellos durch die Zimmer. Fort von hier, fort! Aber wohin?
    Dorthin, wo alles vertraut und vorhersagbar war. Ins Theater!Seine Mauern waren wie eine uneinnehmbare Festung. Dort hatten weder Fremde Zutritt noch das reale Leben mit seinen Gefahren. Dort war sie in ihrem Reich, wo alles vertraut und verständlich war und nichts Angst einflößte.
    Nach dem Tod des unglücklichen Limbach war für Elisa eine neue Garderobe eingerichtet worden, am anderen Ende des Flurs, ein sehr heller und schöner Raum – das hatte Noah Nojewitsch angeordnet. Sie verspürte den unsäglichen Drang, augenblicklich ihr furchteinflößendes, durch und durch fremdes Hotelzimmer zu verlassen und über den Platz zu laufen, um dort zu sein, umgeben von Plakaten und Fotos, die an ihre Triumphe erinnerten. Daran, dass Elisa Lointaine wirklich existierte.
    Allein die gewohnte Disziplin in allem, was ihr Äußeres und ihre Kleidung betraf, hinderte sie daran, unverzüglich loszulaufen. In unglaublicher Eile – in nur einer Stunde – brachte Elisa sich in Ordnung, zog sich um, parfümierte sich und legte ihr Haar zu einer straffen Frisur. Das verlieh ihr eine gewisse Stabilität. Zumindest sah sie sich im Spiegel. Gut, sie war blass, die Augen waren tief in die Höhlen gesunken, aber kombiniert mit dunkelblauem Samt und einem breitkrempigen Hut wirkte dieses Kränkliche sogar interessant.
    Als sie die Straße entlangging, drehten sich die Männer nach ihr um. Elisa beruhigte sich allmählich. Im hallenden Foyer des Theaters angekommen, atmete sie erleichtert auf. Bis zur Probe blieben noch über anderthalb Stunden. Bis elf würde sie wieder in Form sein. Und dann … Nein, daran zu denken, gestattete sie sich nicht.
    Ach, wie schön war es im leeren Theater! Das Halbdunkel flößte keine Furcht ein, selbst das Geräusch von Schritten war eine Freude.
    Außerdem mochte sie den dunklen, menschenleeren Zuschauersaal. Dieser große Raum war ohne Schauspieler leblos; er wartete ergeben und geduldig, bis Elisa ihn mit ihrem Licht erfüllte.
    Sie öffnete die Tür einen Spalt – und blieb stehen. Ganz hinten, vor der Bühne, brannte auf dem Regietisch eine Lampe. Jemand, der mit dem Rücken zu ihr stand, drehte sich beim Quietschen der Tür abrupt um. Eine große, breitschultrige Silhouette.
    »Wer ist da?«, schrie Elisa erschrocken auf.
    »Fandorin.«
    Diese Kraft also hat mich hergezogen, durchfuhr es Elisa. Das ist Schicksal. Das ist die Rettung. Oder der endgültige Untergang – jetzt ist alles gleich.
    Sie ging rasch auf ihn zu.
    »Haben Sie auch einen Ruf verspürt?«, fragte sie bebend. »Hat ein Instinkt Sie hergeführt?«
    »Mich hat die Chemie hergeführt.«
    Im ersten Moment wunderte sich Elisa, dann verstand sie: Er sprach von der inneren Chemie der Herzen!
    Nur Fandorins Stimme klang nicht ganz, wie sie sollte. Nicht erregt, sondern besorgt. Als Elisa näher kam, sah sie, dass er die aufgeschlagenen »Annalen« in der Hand hielt.
    »Schauen Sie. Das war gestern noch nicht da.«
    Sie warf einen zerstreuten Blick auf die Seite mit dem heutigen Datum. Ganz oben stand in schwungvoller Schrift:
»Noch vier Einheiten bis zum Soloabend. Bereitet euch vor!«
    »Ja, das war gestern noch nicht da. Ich bin als Letzte gegangen, nach Mitternacht.« Elisa zuckte die Achseln. »Aber warum sind Sie so besorgt wegen dieses überstrapazierten dummen Scherzes?«
    Was für tiefe Augen er

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