Moskauer Diva
das reiche Liebesleben der Frau Altaïrskaja-Lointaine. Sollte sie küssen und herzen und heiraten, wen sie wollte. Das war ihre Sache.
Jedenfalls hatte Erast Petrowitsch zu früh auf Genesung gehofft. Erneut überkam ihn die Schwermut. Ausschließlich, um sich abzulenken und seine Gedanken zu beschäftigen, fuhr er am nächsten Tag ins Theater und tat, was er sich vorgenommen hatte: Er sah sich die dreisten Mitteilungen in den »Annalen« an.
Zu diesem Zeitpunkt waren es drei.
Vom 6. September: »
Noch acht Einheiten bis zum Soloabend. Besinnt euch!
«
Dann, auf der zweiten Oktoberseite, nur: »
Noch sieben Einheiten bis zum Soloabend.
«
Und die neueste, unter dem Datum 1. November: »
Noch fünf Einheiten bis zum Soloabend.
«
Große Buchstaben. Immer dieselbe Handschrift. Mit Kopierstift geschrieben.
Offenkundiger Unsinn. Da machte sich einer der Schauspieler einen Spaß – wahrscheinlich, um den Regisseur zu ärgern und ihn brüllen zu hören.
Erast Petrowitsch blätterte das »heilige Buch« noch einmal durch. Er wollte überprüfen, ob er die Notiz über »sechs Einheiten« übersehen hatte, aber sie fehlte. Er wurde wütend und legte das Buch beiseite. Der Scherz war nicht nur dumm, sondern auch schlampig ausgeführt. Dieses Geschreibsel verdiente keine Aufmerksamkeit.
Das nächste Mal tauchte Fandorin am fünften November im Theater auf – als Elisa auf Schustrows Antrag antworten sollte. Er hatte zwar mit sich gekämpft, erschien aber trotzdem. Wie würde sie sein an diesem Tag? Würde sein Kommen sie verlegen machen oder nicht? Das bittere Gedicht über die Liebe einer Geisha hatte er in der Tasche. Erast Petrowitsch hatte das Tanka in der Nacht gedichtet, von Schlaflosigkeit geplagt.
Aber er kam nicht dazu, es ihr zu geben. Die Ereignisse überstürzten sich, als ein alter Bekannter in den Zuschauerraum stürmte, jemand aus seinem früheren Leben.
Senja hatte sich sehr verändert, Fandorin erkannte ihn nicht gleich. Er hatte sich zu einem munteren jungen Mann von europäischem Aussehen gemausert, vermengte russische und französische Wörter, aber dennoch schimmerte hin und wieder der halbkriminelle Junge aus Chitrowka durch, mit dem Erast Petrowitsch einst eines der düstersten Abenteuer seiner Detektivlaufbahn erlebt hatte.
Auf dem Weg in die Pretschistenka, unter dem Dröhnen des Bugatti-Motors, redeten, besser schrien sie ein wenig miteinander.
»Wie kommt es, dass Sie sich nun mit Kinematographie beschäftigen? Und warum heißen Sie jetzt Simon?«, frage Fandorin.
»Oh, Erast Petrowitsch,
s’il vous plaît
, sagen Sie du zu mir, wie früher. Ich habe all die Jahre ständig mit Ihnen und mit Herrn Masa geredet. Wenn ich nicht wusste,
que faire
, habe ich immer Sie gefragt. In Gedanken. Und Sie haben mir
respondiert
: Mach es so, Senja. Oder
vice versa
: Tu das nicht, sei kein
Kretin
.«
Er schwatzte ununterbrochen. Er freute sich offenkundig schrecklich über die Begegnung und vergaß darüber sogar zeitweilig das traurige Ereignis. In dieser Hinsicht hatte sich Senja überhaupt nicht verändert. Er konnte auch früher nicht lange niedergeschlagen sein.
»Zu ›Simon‹ bin ich geworden, weil die Franzosen ›Semjon‹ nicht aussprechen können, das liegt ihrer Zunge nicht. Und das
cinema
habe ich liebgewonnen, weil es nichts Schöneres gibt auf der Welt. Als ich zum ersten Mal ›Die Reise zum Mond‹ gesehen habe, wusste ich sofort: Das ist er, mein
chemin dans la vie
, auf Russisch Lebensweg!«
»
M-merci «
, dankte Erast Petrowitsch ihm für die Übersetzung.
»
De rien
. Ich bin direkt zu Monsieur Méliès gegangen. Die Sprache konnte ich damals noch nicht richtig, ein Witz und eine Schande.
Vous êtes un génie
, hab ich gesagt.
Je veux vivre et mourir pour le cinema
. Das hatte ich mir auf einen Zettel geschrieben, mit russischen Buchstaben. Und auswendig gelernt. Mehr konnte ich nicht, kein Wort.«
»Mehr war auch nicht nötig. Das Wichtigste war gesagt. Du hattest schon in jungen Jahren ein beachtliches psychologisches Talent.«
»Später bin ich weg von Méliès. Der Alte verlor allmählich sein
flair
, blieb zurück hinterm Leben. Denn was ist heute das Wichtigste im
cinema
? Größe! Gaumont, der hat Größe. Letztes Jahr haben wir beide in Paris ein Elektrotheater mit dreitausend Plätzenhingeklotzt! Aber zum Kompagnon wollte Gaumont mich nicht machem, da bin ich gegangen. Außerdem ist es in Frankreich zu eng. Da tritt man sich gegenseitig auf die Füße.
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