Moskauer Diva
unterrichtet. Der Regisseur hatte gesagt, das sei eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Truppe kennenzulernen – er werde dem Mäzen alle Schauspieler vorstellen.
Der Besitzer der »Gesellschaft für Theater und Kinematographie« hatte wenig von einem Industriellen, jedenfalls von einem russischen. Er war jung, hager, unauffällig gekleidet und wortkarg. Das Interessanteste an diesem auf den ersten Blick unscheinbaren Herrn waren für Fandorin eine gewisse Konzentriertheit des Blicks und die außerordentliche Ernsthaftigkeit, die er ausstrahlte. Er schien nie zu scherzen, nie zu lächeln, keine sinnlosen Gespräche zu führen. Normalerweise imponierten solche Menschen Fandorin, doch Schustrow gefiel ihm nicht.
Während Stern seine Begrüßungsrede hielt – hochtrabend, mit den üblichen schauspielerischen Übertreibungen (»hochverehrter Wohltäter«, »aufgeklärter Förderer der Musen«, »Schirmherr der Kunst und des Geistes«, »ein Muster des tadellosen Geschmacks« und Ähnliches), schwieg der Kapitalist und betrachtete eingehend die Truppe. Schließlich blieb sein Blick auf der Altaïrskaja-Lointaine ruhen.
Von diesem Augenblick an empfand Fandorin gegen das »Muster des guten Geschmacks« einen heftigen Widerwillen. Er schaute zur Jugendlichen Heldin – was tat sie? Sie lächelte freundlich. Ließ auch kein Auge von Schustrow. Und obgleich das eigentlich ganz natürlich war – die gesamte Truppe blickte auf den jungen Mann mit dem strahlenden Lächeln –, verdüsterte sich Erast Petrowitsch.
Er könnte wenigstens gegen die Komplimente protestieren, Bescheidenheit vortäuschen, dachte Fandorin gehässig.
Aber die Schauspieler der »Arche Noah« hatten tatsächlich allen Grund, Schustrow dankbar zu sein. Er hatte nicht nur den Umzug von Petersburg nach Moskau bezahlt und ihnen für ihr Gastspielein vorzüglich ausgestattetes Theater zur Verfügung gestellt. Wie aus Sterns Rede hervorging, standen der Truppe auch ein kompletter Stab an Musikern und Saaldienern, Maskenbildern und Ankleiderinnen, Beleuchtern und Bühnenarbeitern zur Verfügung sowie sämtliche notwendigen Requisiten, Schneidereien und Werkstätten, in denen erfahrene Meister rasch jedes beliebige Kostüm oder Bühnenbild fertigen konnten. Vermutlich hatte keine andere Truppe, die der kaiserlichen Bühnen eingeschlossen, je unter derart günstigen Bedingungen gearbeitet.
»Wir leben hier wie in einem Zauberschloss!«, rief Noah Nojewitsch. »Wir brauchen nur einen Wunsch zu äußern, nur in die Hände zu klatschen – und der Traum wird erfüllt. Nur unter derartig idealen Bedingungen kann man Kunst machen, ohne die demütigende und zermürbende Sorge darum, wie man sich über Wasser hält. Begrüßen wir unseren Schutzengel, meine Freunde!«
Unter Applaus und feurigen Begeisterungsrufen, denen sich nur Fandorin nicht anschloss, verbeugte sich Schustrow leicht – mehr nicht.
Danach begann die Vorstellung der Schauspieler.
Zuerst führte Stern den hohen Gast zur Altaïrskaja.
Jetzt darf ich, sagte sich Fandorin und gestattete sich endlich, sich ganz auf die Frau zu konzentrieren, wegen der er sich den zweiten Tag in unerklärlicher Erregung befand.
Heute wusste er weit mehr über sie als gestern.
Alter – um die dreißig. Aus einer Schauspielerfamilie. Sie hatte die Schauspielschule im Fach Ballett absolviert, sich aber für das Sprechtheater entschieden, dank ihrer wunderbaren Bühnenstimme mit dem erstaunlich tiefen und sanften Timbre. Sie hatte an Theatern beider Hauptstädte gespielt, mehrere Spielzeiten hintereinander am Künstlertheater geglänzt. Böse Zungen behaupteten, sie sei fortgegangen, weil sie sich nicht mit ebenbürtigen Schauspielern messen wollte, von denen es dort zu viele gab. Bevor sie die JugendlicheHeldin der »Arche Noah« wurde, hatte Elisa Altaïrskaja-Lointaine in Petersburg großen Erfolg mit Programmen im populären Genre der Rezitation zu Musikbegleitung gefeiert.
Ihr Name erschien Erast Petrowitsch nun nicht mehr zu prätentiös. Er passte zu ihr: weit entfernt, wie der Stern Altaïr … Ganz am Anfang ihrer Karriere hatte sie die Prinzessin im Morgenland in Edmond Rostands Stück gespielt – daher Lointaine (im französischen Original heißt die Prinzessin
Princesse Lointaine
, Die ferne Prinzessin). Der zweite Teil ihres Pseudonyms, der ihre unerreichbare Ferne unterstrich, war erst vor kurzem dazugekommen, nach einer kurzen Ehe. Die Zeitungen schrieben darüber recht verschwommen. Der
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