Moskauer Diva
begegnen.
Jedes der alten Stücke wurde noch einmal gespielt: »Die arme Lisa«, »Drei Schwestern« und »Hamlet«. Sie wurden sehr gut aufgenommen, doch Noah Nojewitsch war unzufrieden. Bei der Kritik nach den Vorstellungen, wenn sie Champagner tranken, Einträge in den »Annalen« machten und einander Schmeicheleien und kleine Bosheiten sagten, beklagte sich der Regisseur, dass »die Glut verglimmt«.
»Tadellos, aber nüchtern«, rief er. »Wie bei Stanislawski! So verlieren wir unseren Vorsprung! Ein Theater ohne Aufsehen, ohne Skandale und Provokationen ist nur ein halbes Theater. Liefert mir einen Skandal! Ich will das Blut pulsieren sehen!«
Vor zwei Tagen kam es dann beim »Hamlet« doch zu einem Skandal, und Opfer war erneut Elisa. Der Effekt war geringer als am 5. September, aber Elisa wusste nicht, was abscheulicher war – der Anblick der Schlange oder Smaragdows widerlicher Streich.
Wenn Elisa jemanden absolut nicht ausstehen konnte, dann war es ihr Partner. Ein aufgeblasener, dümmlicher, kleinlicher, neidischer, selbstverliebter Pfau! Konnte sich nicht damit abfinden, dass sein Bonboncharme sie gleichgültig ließ und dass das Publikum sie lieber mochte. Wäre da nicht das Häufchen hysterischer Dämchen, die mit ihrem Gekreisch das übrige Publikum elektrisierten, hätten alle längst entdeckt, dass der König nackt war! Sein Spiel war erbärmlich, ein einziges Augenrollen. Und dann versuchte er noch, das Vieh, sie richtig zu küssen, auf den Mund. Und ihr seine Zunge zwischen die Lippen zu schieben!
Vorgestern hatte er überhaupt jegliche Grenze überschritten. Inder Szene, in der Hamlet versucht, Ophelia den Hof zu machen, spielte Smaragdow den Prinzen von Dänemark als schamlosen Grobian. Presste sie an sich, drückte ihre Brust, und dann kniff er sie zum Entsetzen und zur Begeisterung des Saals frech ins Gesäß, wie ein Offiziersbursche ein Zimmermädchen!
Hinter den Kulissen versetzte Elisa ihm eine Ohrfeige, doch Smaragdow grinste nur wie ein satter Kater. Sie war sicher, dass der Unverschämte bei der Kritik sein Fett abkriegen würde, doch Stern lobte den »innovativen Einfall« und prophezeite, darüber würden am nächsten Tag alle Zeitungen berichten. Das taten sie auch; ein Boulevardblatt erlaubte sich eine durchsichtige Anspielung auf das »besondere Verhältnis« zwischen Frau Altaïrskaja und dem »bezaubernden Herrn Smaragdow« und sprach gar von »afrikanischer Leidenschaftlichkeit, die so unvermittelt auf die Bühne durchgeschlagen« sei.
Wenn das so weiterginge, würde sich Noah Nojewitsch, um das Publikum nicht zu enttäuschen, jedes Mal neue Tricks einfallen lassen müssen – seiner »Theorie der Sensationen« folgend. Vielleicht Krokodile auf die Bühne schicken? Oder die Schauspielerinnen nackt spielen lassen? Die Lissizkaja hatte schon vorgeschlagen, in den »Drei Schwestern« in Unterwäsche auf die Bühne zu kommen – angeblich, um zu unterstreichen, wie schamlos und nachlässig Natalja geworden sei, nachdem sie im Haus der Prosorows Fuß gefasst hatte. Aber wer wollte schon die knochigen Glieder von Xanthippa Petrowna bewundern?
Die Proben zum »Kirschgarten« liefen auf Hochtouren, jeden Vormittag ab elf. Doch das Stück kam irgendwie nicht recht auf Touren. Was war schon Sensationelles am »Kirschgarten«, selbst in einer neuen Interpretation? Noah Nojewitsch schien bereits selbst zu sehen, dass er sich mit dem Stück vergriffen hatte, wollte aber seinen Fehler nicht eingestehen. Schade. Elisa hätte gern etwas Rassiges, Elegantes, Ungewöhnliches gespielt. Die Rolle der tschechowschen siebzehnjährigen Naiven gefiel ihr absolut nicht. Siewar langweilig und eindimensional, da gab es kaum etwas zu spielen. Aber Disziplin war Disziplin.
Um Viertel vor elf stieg sie in den Wagen. Den beiden Ersten Schauspielern stand ein Cabriolet zu, die übrigen bekamen Geld für eine Droschke, aber heute war Elisa Gott sei Dank allein im Wagen. Smaragdow hatte nicht im Hotel übernachtet. (Was häufig geschah.)
Den breitkrempigen Hut mit der Straußenfeder festhaltend, fuhr Elisa die Twerskaja entlang. Sie wurde erkannt – Begrüßungsrufe flogen ihr nach, und der Chauffeur ließ zum Zeichen des Danks die Hupe ertönen. Elisa liebte diese Fahrten, sie halfen ihr, sich vor der Probe mit der nötigen kreativen Energie aufzuladen.
Jeder Schauspieler hat seine eigene Methode, seine eigenen kleinen Tricks, sich auf das Spiel einzustimmen. Die Lissizkaja zum Beispiel zankte sich
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