Moskauer Diva
fand Elisa kleine Papierschnipsel. Ohne Worte, ohne Buchstaben, nur mit Zeichnungen: ein Totenschädel, ein Messer, eine Schlinge, ein Sarg … Aus lauter Argwohn entließ sie mehrere Stubenmädchen, weil ihr schien, sie seien bestochen.
Am schlimmsten waren die Nächte. Vor Anspannung und erzwungener Einsamkeit (von Liebhabern konnte keine Rede sein!) hatte Elisa grässliche Träume, in denen sich Sinnlichkeit und grausige Bilder des Todes miteinander vermengten.
Elisa dachte nun häufig an den Tod. Eines Tages würde Dshingis Khans Wahn seinen Höhepunkt erreichen, und dann würde dieser Unmensch sie töten. Das konnte schon sehr bald geschehen.
Warum bat sie trotzdem niemanden um Hilfe?
Aus mehreren Gründen.
Erstens hatte sie, wie gesagt, keinerlei Beweise, und niemand würde ihr glauben.
Zweitens schämte sie sich für ihre unglaubliche Dummheit – wie hatte sie dieses Ungeheuer heiraten können? Geschieht dir Idiotin ganz recht!
Drittens peinigte sie die Reue für die zugrunde gerichteten Menschenleben. Sie war schuld – also musste sie auch dafür büßen.
Überdies – und das war der seltsamste Grund – hatte Elisa die fragile Schönheit der Welt nie so intensiv empfunden. Ein Psychiater, den sie vorsichtig, ohne Namen zu nennen, wegen DshingisKhan konsultiert hatte, hatte gesagt, Paranoia werde im Herbst stets schlimmer, und ihr Herz hatte sich vor süßer Ausweglosigkeit zusammengekrampft. So fühlte sich wahrscheinlich eine Motte, wenn sie ins Licht flog. Sie weiß, dass sie sterben wird, will aber nicht umkehren …
Ein einziges Mal hatte sie einer momentanen Schwäche nachgegeben und über ihre Angst gesprochen – vor zehn Tagen, mit der herzensguten Olga Knipper-Tschechowa. Da hatte sie gewissermaßen die Beherrschung verloren. Sie hatte nichts Konkretes gesagt, nur geweint und zusammenhanglos gestammelt. Hinterher hatte sie es bereut. Olga mit ihrer deutschen Gründlichkeit hatte sie mit Fragen gelöchert. Hatte angerufen, Briefe geschickt, und nach der Geschichte mit der Schlange war sie ins Hotel geeilt gekommen. Sie hatte rätselhafte Andeutungen gemacht über einen Mann, der in jeder Situation helfen könne, hatte geseufzt und gestöhnt und wieder Fragen gestellt. Aber Elisa war wie versteinert. Sie hatte entschieden: Seinem Schicksal entgeht man nicht, warum noch Fremde mit hineinziehen.
Es gab nur einen Weg, die mitfühlende Seele loszuwerden, einen recht grausamen: sich mit ihr zu zerstreiten. Und Elisa wusste, wie. Sie sagte einige kränkende, unverzeihliche Dinge über Olgas Verhältnis zu ihrem verstorbenen Mann. Olga zuckte zusammen, weinte und wechselte zum »Sie«. Sie sagte: »Gott wird Sie dafür strafen« und ging fort.
Das wird er, dachte Elisa träge, und zwar bald. Sie war an diesem Tag so erstarrt, mehr tot als lebendig, dass sie kein bisschen Reue verspürte. Nur Erleichterung, weil sie nun in Ruhe gelassen wurde. Allein mit ihrem letzten Herbst, dem Irrsinn und den nächtlichen Alpträumen.
»Poch, poch, poch! Poch, poch, poch!«, klopfte es erneut ans Fenster, und Elisa rieb sich die Augen, um den schrecklichen Traum zuverscheuchen. Sie saß in keiner Kutsche, und keine Toten pressten sich mit gieriger Miene gegen die Scheibe.
Die Dunkelheit lichtete sich. Schon wurden die Umrisse der Gegenstände sichtbar und die Zeiger der Wanduhr: Kurz nach fünf. Bald würde es hell sein, und die Angst würde sich wie ein Nachttier bis zur nächsten Dämmerung in seiner Höhle verkriechen. Sie wusste, dass sie nun ohne Furcht einschlafen konnte, am Morgen hatte sie keine Alpträume.
Doch erneut vernahm sie das leise »Poch, poch, poch«.
Sie hob den Kopf vom Kissen und begriff, dass sie gar nicht erwacht war. Der Traum ging weiter.
Sie träumte, sie läge in ihrem Hotelzimmer, vorm Morgengrauen, und schaute zum Fenster, und dort erschiene erneut ein totes Gesicht mit zerzaustem rotem Bart – riesengroß und verschwommen. Mein Gott, hab Erbarmen!
Sie kniff sich, rieb sich erneut die zufallenden Augen. Ihr Blick wurde klarer. Das war kein Traum!
Draußen schwankte ein riesiger Pfingstrosenstrauß. Darunter schlüpfte eine Hand im weißen Handschuh hervor und klopfte ans Fenster: »Poch, poch, poch.« Seitlich davon erschien ein Gesicht, aber es war nicht tot, sondern höchst lebendig. Die Lippen unter dem hochgezwirbelten Schnauzbart bewegten sich in lautlosem Flüstern, die Augen waren aufgerissen und versuchten ins Zimmer zu schauen.
Elisa erkannte einen ihrer
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