Moskauer Diva
seufzte. Dann lächelte sie, als sie an den erneuten Skandal in der Truppe dachte. Irgendwer hatte sich wieder einen Streich erlaubt und in den »Annalen« die alberne Notiz hinterlassen:
Nochsieben Einheiten bis zum Soloabend.
Wann genau, war nicht ganz klar, es hatte lange niemand mehr in die »Annalen« geschaut, da ja keine Vorstellungen stattgefunden hatten. Doch dann war Stern ein »phänomenal genialer Aphorismus« eingefallen, er hatte das Buch aufgeschlagen und auf der Seite des 2. Oktober die groben Kopierstiftkrakeln entdeckt. Der Regisseur reagierte hysterisch. Seine Zielscheibe wurde die ehrenwerte Wassilissa Prokofjewna, die kurz zuvor geschwärmt hatte, was für großartige Soloabende sie früher gehabt habe: Silberne Tabletts, todschicke Adressen, in die Tausende gehende Einnahmen. Auf die Idee, dass die Reginina heimlich auf einen Kopierstift spuckte und mit krummen und schiefen Buchstaben lästerliche Notizen ins heilige Buch schrieb, konnte nur Noah Nojewitsch kommen. Wie komisch er über sie hergefallen war! Und wie donnernd sie sich dagegen empört hatte! »Unterstehen Sie sich, mich mit solchen Verdächtigungen zu beleidigen! Ich setze keinen Fuß mehr in diese Räuberhöhle!«
Plötzlich erschienen auf der »Leinwand« an der Decke, auf die Elisa ihren zerstreuten Blick gerichtet hatte, zwei riesige schwarze Beine und baumelten hin und her. Sie kreischte auf und setzte sich abrupt auf. Sie kam nicht gleich auf die Idee, zum Fenster zu schauen. Doch als sie es tat, schlug ihre Angst in Wut um.
Die Beine waren keine Schimäre, sondern völlig echt und steckten in Kavalleriestiefeln und Reithosen. Sie kamen langsam tiefer, eine Säbelscheide schlug dagegen; nun wurde eine hochgerutschte Husarenjacke sichtbar und schließlich der Kornett Limbach, der an einem Seil hing. Zwei Wochen, seit dem letzten Vorfall, hatte er sich nicht blicken lassen – bestimmt hatte er im Arrest gesessen. Und nun tauchte er wieder auf, wie vom Himmel gefallen.
Diesmal hatte der junge Tunichtgut sein Eindringen offensichtlich gründlicher vorbereitet. Als er auf dem Fensterbrett stand, zog er einen Schraubenzieher oder ein anderes Werkzeug (so genau konnte Elisa das nicht erkennen) hervor und machte sich am Fensterrahmenzu schaffen. Der geschlossene Riegel quietschte leise und drehte sich.
Das fehlte noch!
Elisa sprang aus dem Bett und wiederholte den Trick vom letzten Mal: Sie stieß beide Fensterflügel auf. Doch diesmal war das Ergebnis ein anderes. Limbach hatte wohl, mit dem Schraubenzieher oder womit auch immer hantierend, das Seil nicht richtig festgehalten oder ganz losgelassen. Jedenfalls schrie er bei dem überraschenden Stoß kläglich auf und flog kopfüber hinunter.
Elisa, ganz starr vor Entsetzen, beugte sich über das Fensterbrett, gefasst darauf, einen leblosen Körper auf dem Trottoir liegen zu sehen (die Beletage lag ziemlich hoch, gute zwei Sashen), doch der Kornett war offenkundig gewandt wie eine Katze. Er war auf allen vieren gelandet, und als er seine Herzensdame am Fenster erblickte, presste er flehend beide Hände an die Brust.
»Mich zu Ihren Füßen zu Tode zu stürzen ist für mich Glück!«, rief er mit heller Stimme.
Elisa musste unwillkürlich lachen und schloss das Fenster.
Trotzdem, so konnte es nicht weitergehen. Sie musste das Zimmer tauschen. Aber mit wem?
Warum nicht mit der Durowa? Die Kleine war immer am schlechtesten untergebracht. Und wenn Limbach bei ihr durchs Fenster kletterte, würde Soja, auch wenn sie so winzig war, sich zu wehren wissen. Wenn sie das denn wollte, dachte Elisa verschmitzt. Und wenn nicht – dann wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Soja hätte ihr Vergnügen, und der Husar würde von Elisa ablassen.
Elisa lachte auf, als sie sich die Verblüffung des Kornetts vorstellte, wenn er den Tausch entdeckte. Am besten, sie warnte Soja nicht vor. Das wäre viel spannender – eine Szene aus einer Commedia dell’arte. Vom Schrecklichen zum Komischen ist es im Leben nur ein Schritt.
Aber gab es in Sojas Kämmerchen auch einen Spiegel? Nun, sie konnte darum bitten, den Spiegel aus diesem Zimmer dorthin zu bringen.
In einem Raum ohne Spiegel konnte Elisa nicht leben. Wenn sie sich nicht wenigstens alle zwei, drei Minuten anschaute, hatte sie das Gefühl, nicht wirklich zu existieren. Das war eine bei Schauspielerinnen recht häufige Psychose – die Spiegelsucht.
Über die Pyrenäen
Was sich im »Louvre-Madrid« in der nächsten Nacht
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