Moskauer Diva
beantworten«, sagte Fandorin überzeugt. »Es gibt da einige Vermutungen. Eigentlich nicht nur Vermutungen, sondern Fakten. Stellen Sie mir vorerst keine weiteren Fragen. Morgen werde ich Gewissheit haben.«
Elisa (das war noch ganz am Anfang ihrer Beziehung) tadelte ihn: »Hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen! Was haben Sie herausgefunden?«
»Hat es mit Hellseherei zu tun?«, fragte Stern – ohne jede Ironie, sondern vollkommen ernst. (Seine Wange zuckte nervös. Oder schien es Fandorin nur so?)
Mefistow stand mit dem Rücken zu Fandorin und drehte sich nicht um. Das war seltsam – interessierte ihn das pikante Thema etwa nicht?
Und Dewjatkin? Der lächelte, die Zähne gebleckt. Seine Augen waren starr auf Fandorin gerichtet.
Na schön, kommen wir zum zweiten Akt.
Vor Erast Petrowitsch standen zwei Gläser Tee. Er nahm sie in die Hand, betrachtete erst das eine, dann das andere und zitierte nachdenklich den Text von Claudius, vor dessen Augen Gertrud das Gift trinkt: »Vergiftet war der Kelch, nun ist’s zu spät …Ja, genau so war es. Zwei Kelche, und in einem davon war der T-Tod …«
Die letzten Worte sprach er ganz leise, fast flüsternd. Um sie zu hören, musste der Mörder näher rücken oder den Hals recken. Eine ausgezeichnete Methode, vom dänischen Prinzen in der Mausefallen-Szene erfunden. Wenn die Verdächtigen ausgemacht sind, muss man nur noch ihre Reaktion beobachten.
Stern hörte nichts – er redete mit Rasumowski. Mefistow stand noch immer abgewandt. Dafür beugte sich der Regieassistent zu Fandorin herüber, und sein seltsames Lächeln wirkte jetzt wie eine Grimasse.
Das war nun die ganze Ermittlung, dachte Erast Petrowitsch mit leisem Bedauern. Da hatten wir schon verzwicktere Rätsel zu lösen.
Natürlich hätte er sich den Täter gleich an Ort und Stelle vornehmen können, Indizien gab es genug. Klar war auch das vermutliche Motiv: Die Gier, den Lopachin zu spielen. Wer das Theater nicht kennt, dem wird diese Hypothese gewagt erscheinen. Auch die Justiz würde es kaum anerkennen, zumal sämtliche Indizien nur indirekt waren.
Der Täter musste also auf frischer Tat gestellt werden, damit er sich nicht herausreden konnte.
Nun denn, auf zum dritten Akt.
Erast Petrowitsch griff in seine Westentasche.
»Na so was. Wo ist denn mein Chronometer? Herrschaften, hat es jemand g-gesehen? Eine goldene Taschenuhr, von Pawel Bure? Mit einer Lupe als Anhänger?«
Natürlich hatte niemand die Uhr gesehen, doch die meisten Schauspieler wollten dem Dramatiker helfen und begannen sofort zu suchen. Sie schauten unter die Sessel, baten Erast Petrowitsch, sich zu erinnern, ob er die Uhr womöglich irgendwo liegengelassen haben könnte, in der Kantine oder, pardon, auf dem Klosett.
Fandorin schlug sich an die Stirn,
»Ach ja, in der Requi …« – dann stockte er, sprach nicht weiter und hustete.
Ein primitives Intermedium, eine Dummenfalle. Aber Fandorin schätzte die geistigen Fähigkeiten seines Opponenten nicht eben hoch ein.
»Schon gut, Herrschaften, b-bemühen Sie sich nicht weiter, ich weiß es wieder«, erklärte er. »Ich hole sie nachher. Dort kommt sie nicht weg.«
Dewjatkin benahm sich wie der Bösewicht in einer Schmierenkomödie, das heißt, wie eine Karikatur: Er war übersät mit roten Flecken, biss sich auf die Lippen und bedachte Fandorin mit zornigen Blicken.
Nun musste Erast Petrowitsch nicht mehr lange warten.
Die Probe war zu Ende. Die Schauspieler gingen auseinander.
Fandorin ließ sich absichtlich Zeit. Er schlug die Beine übereinander, zündete sich eine Zigarette an. Schließlich war er ganz allein. Doch er hatte es noch immer nicht eilig. Der Täter sollte ruhig ein wenig nervös werden und leiden.
Dann war es im Gebäude ganz still. Nun war es Zeit.
Das Schicksalsgericht
Er ging hinaus auf die Treppe und hinunter in die Gewerke-Etage. Der lange Flur mit den Türen der Fundus-und Werkstatträume war dunkel.
Fandorin blieb vor der Requisite stehen. Er drückte die Klinke herunter – es war abgeschlossen, vermutlich von innen.
Er öffnete mit dem Dietrich. Drinnen herrschte absolute Dunkelheit. Erast Petrowitsch hätte das Licht einschalten können, doch er wollte es dem Täter leichter machen. Die trüben Lichtstreifen,die vom Flur hereindrangen, genügten ihm vollkommen, um zum Regal zu gehen und seine Uhr herunterzunehmen.
Während er sich im Dunkeln bewegte, jeden Augenblick auf einen Angriff gefasst, verspürte Fandorin nicht ohne eine gewisse
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