Moskauer Diva
Requisite. Das heißt, der Saaldiener zeigte ihm lediglich, wo sich die Requisite befand, und entfernte sich, die Tür öffnete Fandorin selbst, mit einem simplen Dietrich.
Und was fand er? Der zweite Zinnkelch stand seelenruhig im Regal, neben Kronen, Krügen, Schalen und den übrigen »Hamlet«-Requisiten. Fandorin erkannte den gesuchten Gegenstand anhand der Beschreibung; es war der einzige Kelch mit einem Adler und einer Schlange auf dem Deckel. Die Staubspuren verrieten, dass einmal zwei Kelche hier gestanden hatten. Am Abend seiner Ermordung hatte Smaragdow sie direkt von der Bühne mit in seine Garderobe genommen, und anschließend hatte jemand (vermutlich der Mörder) nur einen wieder an seinen Platz gestellt. Die Untersuchung mit Hilfe einer starken Lupe offenbarte einen winzigen Riss, durch den der Wein nach außen geronnen war. Außerdem war zu erkennen, dass der Kelch gründlich abgespült worden war. Darum waren leider keinerlei Fingerabdrücke darauf.
Dennoch – die halbe Arbeit war getan. Die Liste der Verdächtigen bekam klare Konturen. Fandorin musste nur noch in diesen Kreis eindringen, um den Täter zu finden.
Ein weiterer Tag verging, und alles fügte sich ideal. Er musste nicht mehr heimlich vorgehen oder Bedienstete bestechen. Sein Stück über die zwei Kometen sollte aufgeführt werden, und nun war er in der Truppe kein Fremder mehr. Eine wahrhaft glückliche Verbindung von persönlichem Interesse und Bürgerpflicht.
Während der Probe stellte er verschiedenen Personen ein, zwei scheinbar beiläufige Fragen und fand so das Wichtigste heraus: Wer zu jeder Tages- und Nachtzeit ungehinderten Zugang zur Requisite hatte. Die Liste der Verdächtigen schrumpfte auf ein Minimum. Requisiten-, Kostüm- und Attrappenfundus verwaltete der Regieassistent Dewjatkin. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst, gab den Schlüssel nicht aus der Hand und begleitete jeden, der etwas vondort holen wollte. Für ihn wäre es ein Leichtes gewesen, den Kelch zurückzustellen.
Doch es gab eine Person in der Truppe, die keine Erlaubnis von Dewjatkin benötigte – den Direktor. Um herauszufinden, ob Stern sich von seinem Assistenten den Schlüssel hatte geben lassen, hätte Fandorin Fragen stellen müssen, doch da das zu nichts geführt hätte, entschied er, beide vorerst für verdächtig zu halten.
Die dritte Person kam ganz zufällig ins Spiel. In Fandorins Stück verkörperte der
Komiker
Lowtschilin die Rolle des Kinjo, eines Taschendiebs, genauer gesagt, eines Ärmeldiebs, denn japanische Kleider hatten keine Taschen, Wertvolles wurde darum in den Ärmeln verstaut. Lowtschilin hatte bereits in »Oliver Twist« einen Taschendieb gespielt und damals dieses schwierige Gewerbe fleißig studiert, um auf der Bühne überzeugend zu wirken. Und nun erinnerte sich der junge Mann an seine Fähigkeiten und wollte seine Kunst demonstrieren: Während der Pause schlich er mal um den einen, mal um den anderen herum, und anschließend gab er der Reginina lachend die Geldbörse zurück, Dewjatkin ein Taschentuch, Mefistow ein Medikamentenfläschchen. Wassilissa Prokofjewna nannte den geschickten Dieb einen Gauner, Dewjatkin zwinkerte nur heftig, Mefistow aber tobte und schrie, ein anständiger Mensch würde sich nicht erlauben, in fremden Taschen herumzuwühlen, nicht einmal im Scherz.
Nach diesem komischen Zwischenfall nahm Fandorin auch Lowtschilin in seine Liste auf. Wenn er Dewjatkin ein Taschentuch aus der Tasche ziehen konnte, hätte er auch den Schlüssel entwenden können.
Nach einem weiteren Tag war die bewährte simple detektivische Operation »Jagd mit Köder« geplant, und Fandorin machte sich an die Ausführung.
Am frühen Nachmittag schlich sich Fandorin mit Hilfe seines Dietrichs heimlich in die Requisite. Er legte sein Bure-Chronometerneben den Kelch. Als er hinter sich ein Geräusch vernahm, drehte er sich um und entdeckte im linken Regal eine große Ratte, die ihn mit verächtlicher Gelassenheit beobachtete.
»B-bis bald«, sagte Fandorin zu ihr und ging hinaus.
Als dann um fünf Uhr alle Tee aus dem Samowar tranken (eine weitere Tradition der Truppe), kam die Rede erneut auf Smaragdow. Die Schauspieler rätselten, welches Unglück ihn dazu bewogen haben mochte, aus dem Leben zu scheiden.
Erast Petrowitsch sagte, als denke er laut nach: »Selbstmord? Also, ich weiß nicht …«
Alle drehten sich zu ihm um.
»Was dann, wenn nicht Selbstmord?«, fragte Prostakow erstaunt.
»Diese Frage werde ich Ihnen bald
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