Mottentanz
Frühstück will. Jason liegt im Bett, Sean
denkt wahrscheinlich, er schläft. Vielleicht schläft er immer lange und das Bild ist ihm vertraut, vielleicht steht er aber sonst auch früh auf und es ist seltsam, dass er noch im Bett liegt. Ist er angezogen? Trägt er einen Schlafanzug? Seine Augen sind geschlossen. Vielleicht sagt Sean guten Morgen, nennt ihn Alter, oder Arschgesicht oder was Brüder so zueinander sagen. Sean wartet auf eine Antwort, aber sein Bruder reagiert nicht. Vielleicht hält Sean es zuerst für einen Witz oder denkt, sein Bruder schlafe nur sehr tief. Er ruft seinen Namen erneut. Immer noch keine Antwort. Er ruft wieder. Und wieder. Wie oft ruft Sean den Namen seines Bruders, bis er merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist? Schüttelt er ihn? Prüft er, ob er atmet? Fühlt er seinen Puls? Rennt er aus dem Zimmer? Fängt er an zu schreien? Ruft er den Rettungswagen? Hatte er noch Hoffnung oder wusste er gleich, dass es zu spät war? Und wie kann er mit einer solchen Erinnerung leben, die in seinem Kopf herumspukt und alle anderen verdunkelt und beschmutzt?
Ich wende mich Amanda zu, die immer noch auf den Zeitungsausschnitt starrt. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, ist das Scham? Entsetzen? Ich weiß es nicht. Es ist mir egal.
»Du musst jetzt gehen«, sage ich.
Amanda versucht, meine Hand zu ergreifen. Ich weiche zurück.
Wenn ich jetzt eine Seite wählen muss, dann ist die Wahl gefallen. Ich lehne mich an Sean. Amanda schaut mich mit offenem Mund an. »Geh einfach.« Meine Stimme ist kalt und hart. Amanda zuckt zusammen. Es wird nie wieder sein wie früher.
Kapitel 27
Sobald die Tür sich hinter Amanda schließt, wird alles anders. Es ist, als habe sie die ganze schlechte Stimmung in ihre Reisetasche gepackt und nach unten genommen, mit in das Taxi, das sie zum Flughafen bringen wird. Jetzt ist sie weg und Sean und ich können endlich wieder frei atmen.
Ich will mich gerade dafür entschuldigen, was passiert ist, für alles, was Amanda gesagt hat, aber bevor ich ein Wort herausbringe, dreht sich Sean mit einem süßen, träumerischen Lächeln auf den Lippen zu mir um. »Danke«, sagt er. Er umfasst meine Taille und zieht mich zu sich. »Danke.« Er hält meinen Kopf an seine Brust gedrückt und flüstert in mein Haar: »Danke, danke, danke, danke, danke.« Ich weiß zwar nicht, wofür er mir dankt, aber ich nicke und erwidere seine Umarmung. Sein T-Shirt ist warm an meiner Haut.
Er legt eine Hand in meinen Nacken und hält sein Gesicht an meines. Seine Lippen streichen so sanft über meine Wange, dass ich sie kaum spüre. Er küsst mich wieder, direkt neben den Mund, auf mein Kinn, auf die Stirn, die Nasenspitze, mein ganzes Gesicht. Wieder und wieder und wieder. Als er endlich seine Lippen auf meine presst, zittern mir die Knie. »Komm«, sagt er und führt mich zum Bett. Er legt sich
hin, zieht mich auf sich und legt meinen Körper wie eine Puppe zurecht. Meinen Kopf auf seine Brust, meine Arme um seinen Hals.
»Das ist Schicksal, Ellie«, flüstert er. »Das ist Schicksal.«
Ich weiß, dass ich ihm einiges erzählen muss, über das Treffen mit Monster Hands, was sie über Nina gesagt haben, über das Haus in Big Sur, und ich weiß, dass ich auch Brad und meine Mutter anrufen sollte, aber als ich aufschaue und Seans Gesicht so nah an meinem sehe, zärtlich und voller Frieden, da entscheide ich, dass alles andere warten kann. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit fühle ich mich wirklich glücklich. Ich bin genau da, wo ich sein sollte.
Kapitel 28
Irgendwann in der Nacht werde ich durch Bewegungen und Geräusche aus dem Schlaf gerissen. Sean tritt gegen seine Decke und hat die Arme um meine Schultern geschlungen, seine Finger krallen sich in meine Haut, lassen locker, packen wieder zu, kratzen über meinen Rücken. Er schwitzt, seine Haut ist heiß an meiner. Ich kann ihn in dem Mondlicht, das durch das Fenster dringt, gerade so erkennen. Seine Augen sind geschlossen. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt. Würgende, tierische Schreie dringen durch seine zusammengebissenen Zähne.
»Sean«, flüstere ich. Und dann lauter: »Sean.«
Er versucht, etwas zu sagen, aber die Worte kommen undeutlich heraus, als lerne er gerade erst zu sprechen. »Habinichretet, habinichretet.« Er schlägt wild um sich.
»Du hast einen Albtraum«, sage ich. Ich umarme ihn fest. »Es ist alles in Ordnung, du hast nur einen Albtraum. Schhhhhh.« Er legt mir die Arme um die Taille und klammert sich an mich,
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