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Mottentanz

Mottentanz

Titel: Mottentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lynn Weingarten
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oder gruselig hältst, dann nur, weil du das nicht verstehst. Sei froh, dass du das nicht musst.« Und dann verstumme ich. Ich erkenne Amandas Gesicht im Wasser kaum und sehe nicht, welchen Ausdruck ihr Gesicht hat.
    »Und du glaubst das?«, fragt sie. Sie klingt nicht zerknirscht, wie ich es erwartet hätte, und auch nicht, als tue es ihr leid.
    »Was?« Ich spucke das Wort aus, heiße Säure in ihr Gesicht.
    »Woher weißt du, dass er dir die Wahrheit gesagt hat? Woher weißt du, dass das nicht eine dramatische Geschichte ist, die er sich ausgedacht hat, um an dich ranzukommen und dich auf diese irre Reise mitzunehmen? Ich habe eine Frage: Hat er dir von seinem toten Bruder erzählt, bevor du ihm das mit Nina gesagt hast? Oder danach?«
    Ich sage nichts.
    »Woran ist sein Bruder gestorben?«
    »Das habe ich nicht gefragt!« Ich weiß nicht, warum ich ihr überhaupt noch antworte.
    »Ich wette, er hat das alles erfunden«, sagt sie. »Wahrscheinlich hatte er überhaupt keinen Bruder.«
    »Halt den Mund!«, schreie ich. »Halt den Mund, halt den Mund! HALT DEN MUND!« Als ich aufhöre, ist sie still. Ich höre Schritte, die zum Aufzug rennen. Ich drehe mich um und sehe Seans Rücken. Er drückt den Aufzugknopf und
steigt ein. Als sich die Aufzugtüren schließen, sehe ich auf seinem Gesicht eine solche Qual, dass mir ebenfalls die Tränen kommen. »Sean«, rufe ich. Aber er ist bereits fort.
    »Was hast du da angerichtet?«, gifte ich Amanda an.
    Sie öffnet den Mund zu einem O. Ich renne zum Aufzug und höre sie hinter mir.
    »Ellie, warte!«, ruft sie. »Ellie!« Ich gehe einfach weiter.
    Neben dem Aufzug ist ein Treppenhaus. Ich drücke die Tür auf und renne die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend. Amanda rennt keuchend hinter mir her. Wir rennen runter, runter, runter. Meine Beine brennen, meine nassen Füße klatschen auf den Boden. Dreizehn Stockwerke später sind wir endlich da. Wir stürzen keuchend auf den Flur. Die Tür zu unserem Zimmer ist nur angelehnt. Wir gehen hinein.
    Der Raum ist dämmrig, nur von einer Nachttischlampe erleuchtet. Sean kauert mit dem Rücken zu uns auf dem Boden und beugt sich über seine schwarze Ledertasche.
    Als er uns ins Zimmer kommen hört, klappt er die Tasche zu und schließt das Schloss. Er steht langsam auf, er hält etwas in der Hand. Dann geht er zu dem Schreibtisch neben der Tür lässt etwas auf die Platte fallen, einen Zeitungsausschnitt, leicht vergilbt. Dann tritt er einen Schritt zurück.
    »Ich würde Ellie niemals anlügen.« Er klingt nicht wütend, nur traurig und sehr, sehr müde. Wir starren alle auf den Tisch. »Na los«, sagt Sean. »Lest es.«
    Amanda schaut erst mich, dann ihn an und geht dann vorwärts. Sie hebt den Zeitungsausschnitt auf und ich lese die Schlagzeile über ihre Schulter.

    »Teenager aus Elm Falls stirbt an Überdosis.«
    Am frühen Donnerstagnachmittag, nur einen Tag, nachdem er seinen 18. Geburtstag gefeiert hat, wurde Jason Cullen im Haus seiner Mutter und seines Stiefvaters in Elm Falls von seinem Stiefbruder Sean, 14, tot aufgefunden.
    Ich höre Amanda scharf den Atem einziehen. Tränen treten mir in die Augen. Ich schaue Sean an, der stumm neben dem Bett steht. Unsere Blicke treffen sich. Ich hebe die Hand an die Lippen und schaue wieder auf den Artikel. Die Trauerfeier fand am Freitagabend in der Kirche Our Lady of Grace in West Edgebridge statt. »Er war der netteste Mensch, den ich jemals getroffen habe«, sagte Max Davies, 20. »Meine Familie ist immer viel umgezogen, Tennessee, Florida, Pennsylvania, aber erst in Chicago fühlte ich mich endlich zu Hause. Und das war wegen Jason. Er war mein erster und bester Freund. Die Tatsache, dass er nicht mehr lebt, ändert daran nichts.« Die Familie gab keinen Kommentar ab. Es wird untersucht, ob die Überdosis versehentlich oder absichtlich eingenommen wurde.
    Rechts von dem Artikel ein Bild von Jason bei der Schulabschlussfeier. Kräftiger Kiefer, breiter Mund. Er sieht glücklich aus. Es kommt mir vor, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen. So ein Gesicht hat er.
    Sean steht am Schreibtisch und schaut zu Boden. Ich gehe zu ihm und lehne mich an ihn.
    »Hey«, sage ich. Er schaut auf und lächelt ein schwaches Lächeln, das »jetzt weißt du es« bedeutet. Es trifft mich wie ein tonnenschweres Gewicht. Wie muss es für ihn gewesen sein? Ich kann es mir vorstellen – der vierzehnjährige Sean geht ins Zimmer seines Bruders, um ihn zu wecken und ihn zu fragen, ob er

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