Mount Dragon - Labor des Todes
wie weit? Und würden sie dann nach Süden abbiegen oder nach Norden? In beiden Richtungen gab es weit und breit kein Wasser. Nye hatte in der Jornada überhaupt nur dann Wasser gesehen, wenn sich nach einem Gewitter in den Senken kleine Seen gebildet hatten, die aber kurz danach wieder ausgetrocknet waren. Jetzt aber hatte es bis auf den einen kurzen Schauer an dem Tag, an dem Nye in der Wüste mit Carson zusammengetroffen war, seit Monaten nicht mehr geregnet, und der Beginn der Regenzeit würde noch bis Ende August auf sich warten lassen.
Die südliche Route war zweifelsohne erfolgversprechender, denn der Weg nach Norden war sehr viel länger und führte über mehrere Lavafelder. Unter normalen Umständen wäre Carson sicher nach Süden geritten. Aber er wußte auch, daß Nye zu demselben Schluß kommen würde. Nach Norden, sagte die Stimme.
Nye blieb stehen und horchte. Die Stimme war ihm irgendwie vertraut. Sie war hoch und zynisch und hatte einen leichten Anflug von jenem Cockney-Akzent, den auch die beste Internatserziehung nicht völlig beseitigen kann. Auf gewisse Weise kam es ihm ganz selbstverständlich vor, daß sie zu ihm sprach, auch wenn er nicht genau sagen konnte, wessen Stimme es war.
Nye ging zurück zu Muerto und stieg in den Sattel. Er wollte sichergehen, daß Carson wirklich nach Norden ritt. Irgendwo mußten er und die Frau ja das Lavafeld wieder verlassen, und genau dort würde Nye ihre Spur wieder aufnehmen. Er beschloß, zuerst am Nordrand der Lava entlangzureiten. Wenn er dort die Spur nicht fand, würde er quer über das Feld zu dessen südlichem Rand reiten und es dort versuchen. Eine halbe Stunde später hatte er die Stelle gefunden, an der Carson vergeblich versucht hatte, seine und de Vacas Spuren zu verwischen. Der Sand sah dort, wo Carson ihn geglättet hatte, viel regelmäßiger aus als gleich daneben, wo der Wind ihn zu Zufallsmustern geformt hatte. Die Stimme hatte also recht gehabt: Die beiden waren tatsächlich nach Norden geritten. Nye folgte den Wischspuren langsam bis zu der Stelle, wo sie in klar sichtbare Hufabdrücke übergingen. Von da an war die Spur so klar zu sehen wie die Begrenzungspfosten an einer Straße. Sie führte schnurstracks auf den Polarstem zu. Das war alles noch viel einfacher, als Nye geglaubt hatte. Etwa bei Sonnenaufgang würde er Carson und de Vaca eingeholt haben. Mit seinem Holland &. Holland-Gewehr konnte er ihn aus einer Entfernung von über einem halben Kilometer abknallen. Der Mann würde tot sein, noch bevor er den Schuß gehört hatte. Es würde gar kein letztes Aufeinandertreffen geben, bei dem Carson um sein Leben betteln könnte. Nur ein sauberer Schuß aus sechshundert Metern Entfernung und ein zweiter für das Flittchen. Dann konnte Nye endlich beruhigt losziehen und nach dem suchen, was ihm mehr bedeutete als alles andere auf der Welt: dem Gold des Mount Dragon.
Wieder einmal ging Nye seine Berechnungen durch. Er hatte sie schon so oft angestellt, daß er sie längst auswendig konnte. Ein Maultier konnte zwischen neunzig und hundertzwanzig Kilo Gold tragen, je nachdem, wie kräftig es war. Das allein war schon ein Metallwert von über einer Million Dollar. Vermutlich bestand der Schatz jedoch aus alten, mit einem Stempel versehenen Barren und neuspanischen Münzen, was seinen Wert bis ums Zehnfache nach oben treiben würde. Jetzt war Nye frei von Mount Dragon und frei von Scopes. Nur Carson -der Verräter da draußen in der Dunkelheit, der gemeine, hinterhältige Dieb - stand ihm als einziger noch im Weg zu Reichtum und Glück. Aber eine wohlgezielte Kugel würde bald auch dieses letzte Hindernis beseitigen.
Um drei Uhr früh war die Luft noch kühler geworden. Carson und de Vaca überquerten den Kamm einer Anhöhe und ritten hinunter in eine breite, mit Wüstengras bestandene Senke. Seit sie vor fast zwei Stunden in weiter Entfernung am brennenden Mount Dragon vorbeigezogen waren, hatten sie weder neben noch hinter sich Lichter gesehen. Die Geländewagen hatten sie ganz offenbar abgehängt.
Carson hielt sein Pferd an, stieg ab und befühlte die Halme des Grases. Es war Wüstenhafer, eine Pflanze mit hohem Eiweißgehalt, die ein hervorragendes Futter für die Pferde abgab. »Wir bleiben hier ein paar Stunden und lassen die Pferde grasen«, sagte er.
»Sollten wir nicht lieber weiterreiten, solange es noch dunkel ist?« fragte de Vaca. »Vielleicht suchen sie uns, sobald es hell wird, mit Hubschraubern.«
»Auf dem Gebiet des
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