Mount Maroon
Zustand. Drinnen war er niemals. Es war voller Hornissennester, der Garten war verwildert und die Herbststürme hatten dem Dach ordentlich zugesetzt. Sicherlich hatte Albert Mason ihm in typischer Großvatermanier von den Jahren erzählt, die er hier verbrachte, aber eine nachhaltige Vorstellung hatte sich nicht aufgebaut. Als Alan geboren wurde, lebte Albert Mason schon lange in einem größeren und komfortableren Haus, das er zusammen mit seiner Frau gebaut hatte, bevor diese 1955 an Krebs starb.
Dieses Häuschen, das Alan Mason jetzt bewohnte, hatte Albert in den 1920er Jahren gekauft. Er war auf Wanderschaft, auf der Suche nach Freiheit und dem großen Glück, unterwegs nach Kalifornien, dem gelobten Land der Amerikaner. Voller Hoffnung war er in Bangor, Maine, aufgebrochen, ganz sicher nicht, um ausgerechnet hier in der Wildnis zwischen North Carolina und Tennessee seinen Lebensmittelpunkt zu finden. Aber die Gerüchte von den Goldfunden am Tellamount Creek hatten ihn abgelenkt wie die Gravitation einen Lichtstrahl. Und so kam er nach Bryson City und blieb bis zu seinem Tode. Gold fand er nicht, dafür aber eine Anstellung bei einigen Pionieren einer neuen Wissenschaft, die sich zu Forschungszwecken in die Berge der Blue Ridge Mountains zurückgezogen hatten. Es war seinerzeit nach außen hin vielleicht nicht viel mehr als die Ansammlung weniger primitiver Holzhütten, aber in theoretischer Hinsicht war es der Vorläufer des Mount Maroon Laboratory. Unter der hiesigen Bevölkerung, die zu einem großen Teil aus Cherokee-Indianern bestand, waren Ausbildung und Fähigkeiten wie Albert Mason sie mitbrachte, kaum anzutreffen. Albert hatte eine Marineschule besuchte, obwohl ihn weder der Krieg noch die Seefahrt wirklich ansprachen. Sein Interesse galt der Mathematik, der Physik und deren technischer Anwendung. Und als es ernst wurde und er sich für eine Fahrt auf einem der großen Schulschiffe anmelden sollte, haute er ab – von heute auf morgen. Seine Eltern und die Schwester fanden eines Morgens einen kurzen Brief, und sie wussten, dass man besser nicht nach ihm suchen sollte. Selbst wenn man ihn fände, würde man ihn nicht umstimmen können, sondern es allen Beteiligten lediglich schwerer machen. Natürlich hätte er mit seiner Begabung auch an der Ostküste eine einträgliche Beschäftigung gefunden, aber er suchte eine ganz besondere Herausforderung und er war jung und wild und hungrig.
Alan Mason fand schließlich noch etwas Kaffee. Die Zubereitung im Blechgeschirr über der offenen Feuerstelle war gewöhnungsbedürftig, aber noch vermisste er den Komfort des 21. Jahrhunderts nicht. Er glaubte zu wissen, worauf er sich eingelassen hatte, doch wusste er es wirklich? Hier oben in den Bergen gab es zu dieser Zeit weder Fernsehen noch Telefon, zumindest nicht für alle. Das Labor verfügte selbstverständlich über eine exquisite technische Ausstattung, aber das Labor gab es nun nicht mehr. Mason überlegte. Wie ließ sich dieses Faktum einordnen? Welchen Lauf würde die Geschichte nehmen? Er zündete eine Petroleumlampe an, setzte sich in den alten Schaukelstuhl und stellte den Kaffeepott auf die Armlehne. Er kannte die Geschichte des Laboratory von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, von seinem Bau 1943 bis zum Sommer 2009. Aber einen Unfall dieser Größenordnung hatte es nicht gegeben, niemals. Hier wurde die Geschichte definitiv neu geschrieben. Zudem war da noch die Sache mit seinem Großvater, den er durch seine Zeitreise tatsächlich getötet hatte, und zwar bevor dieser seinen Vater zeugen konnte. War das hier das Großvaterparadoxon, oder war es gar seine Auflösung? Mason war nun schon zwei Wochen im Jahre 1947 und hatte eigentlich noch nichts erreicht. Gut, er stand nicht unter Zeitdruck, denn selbst wenn es ihm erst in zehn oder zwanzig Jahren gelänge zurückzureisen, so konnte er genau zum Zeitpunkt seiner Abreise wieder eintreffen. Die Zeit, die er nutzlos verbringen würde, wäre für Shane und die anderen nicht verloren. Aber was, wenn sich durch den Verlust des Labors die Zukunft dahingehend änderte, dass es 2009 an diesem Ort gar kein Mount Maroon Laboratory gäbe? Die Vergangenheit hatte er durch die Explosion jedenfalls schon grundlegend verändert, denn er konnte sich bereits letzte Woche davon überzeugen, dass auf dem verdammten Berg kein Stein mehr auf dem anderen stand, zumindest keiner, der von Menschen angeordnet wurde. Es wirkte bizarr, glich einer vor Urzeiten durch das
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