Mozart - Sein Leben und Schaffen
glauben. Goethe führt uns seinen »Faust« in hundert Beziehungen zur Welt vor, um am Ende seiner Dichtung die Quintessenz des Faustischen ziehen zu können. Der Musiker, der an den Fauststoff geht, kann uns diese zahllosen Erscheinungen aus der Welt nicht geben. Aber er kann uns diesesFaustische an sich als Ergebnis seines Erlebens der Goethischen Dichtung in unendlich höherem Maße fühlen lassen als irgend eine Wortdichtung. Wir sehen hier, wie nahe Dichten und Nachdichten in Tönen bzw. in Farben einander zu kommen vermögen.
Als eine Vorstufe nun dieses Nachdichtens in Tönen, das seinerseits im Ergebnis dem Dichten nahezu gleichwertig werden kann, möchte ich das Melodrama bezeichnen, das damit auf derselben Stufe stände, wie oft die Klassiker-Illustration. Man halte sich zum leichteren Verständnis zunächst an die letztere, und setze den Fall – er läßt sich übrigens aus der Geschichte der Künstler oft belegen –, es habe ein Künstler, der diesen Namen verdient, Goethes »Faust« illustriert. Er hätte damit für die zahlreichen zum Bilde verlockenden Situationen und Stimmungen dieser Dichtung ebensoviele Gestaltungen gegeben, von denen jede möglichst den einzelnen Augenblick erschöpfen mußte, ohne Rücksicht auf das, was vorher und nachher geschieht. Er hätte auf diese Weise den Faust auf die stärkste Weise »in Stücken« erlebt. Es ist nun ein schier notwendiger Vorgang, daß im Künstler diese zahlreichen Stücke sich zu einem Ganzen vereinigen. Aus dem Faust in hundert Situationen wird sich ihm der Faust entwickeln. Nur die Tatsache, daß der echte Künstler diese letzte Tätigkeit, wie überhaupt das Erleben der sämtlichen Einzelsituationen bereits durchgemacht hat, bevor er ans Zeichnen geht, daß er also seinen Fausttypus bereits in die erste Zeichnung hineinstellt, bringt es mit sich, daß man über diese Reihenfolge des inneren Schaffens im unklaren sein kann. Trotzdem haben wir in der Praxis immer noch hundertfältig den Fall, daß Künstler, die irgend eine Dichtung illustriert haben, oft jahrelang später in einem großen Bilde irgend einen Moment der Dichtung zu gestalten suchen, der für sie der Brennpunkt des Ganzen ist, und zwar hauptsächlich nach der Richtung hin, daß hierin sich das Wesen der betreffenden Gestalt offenbare.
An dieser Stelle muß sich uns auch die große Bedeutung des Melodramas offenbaren.
Halten wir uns zunächst an die Erscheinung des Melodramas, wie wir ihr heute begegnen. Wenn ein echter Musiker eine Dichtungergreift, um ein Melodrama zu schaffen, so tut er es aus dem gleichen Empfinden heraus, wie ein echter bildender Künstler eine Dichtung illustriert. Diesen reizt, daß die in der Dichtung auftretenden Gestalten und die darin vorkommenden Situationen so stark bildhaft sind, daß die bildende Kunst in ihrer Vorführung sich eigenmächtig betätigen kann. Der Musiker wählt für ein Melodrama Dichtungen, deren Empfindungsgehalt, deren seelisches Leben so stark ist, daß die Musik hier reichlich Gelegenheit zur Betätigung hat, und zwar über das Wort hinaus, das nicht imstande ist, die gegebenen seelischen Zustände völlig auszuschöpfen, sie lebendig genug zu vermitteln. Die Musik weiß also, daß sie die suggestive Kraft dieses Kunstwerkes auf den Empfänger durch ihre Mitwirkung erhöhen kann. Der »Nachdichter« tritt nun so an die Dichtung heran, daß er jede Gelegenheit, die diese ihm für Musik bietet, ausnutzt. Als stärkste dieser Gelegenheiten stellen sich von vornherein dar: zunächst die Einführung in die Stimmung der Dichtung, das Vorbereiten der ganzen seelischen Atmosphäre, aus der heraus die Dichtung erwächst; dann jene Unterbrechungen der Darstellung des Seelischen, die in jeder Dichtung vorkommen, die eine weitere Zeitspanne seelischer Zustände umfaßt, die uns infolgedessen den Wechsel dieser seelischen Stimmung bzw. den Wandel derselben mitzuteilen strebt. In einer solchen Dichtung sind Pausen. Man denke an alle großen Monologe in Dramen. Es sind Pausen, die durch Gesten, unter Umständen auch bloß durch Stillschweigen ausgefüllt werden. In diesen Pausen liegt jenes innere Überlegen, jenes Verarbeiten der vielleicht widerstreitenden Gefühle, wodurch jener weitere Punkt des seelischen Zustandes erreicht wird, den nun wieder das Wort ausspricht. Hier sieht sich die Musik vor dem ihr ureigensten Gebiete als Seelensprache; nämlich von dem Kunde zu geben, was im Innern dieses Menschen vorgeht. Sie findet auch während der
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