Mozart - Sein Leben und Schaffen
höchste Rhythmik der körperlichen Lebensbetätigung offenbart, in Wien vor sich gegangen ist. Von Italien aber kam jenes starke Empfinden für die Schönheit der Linienführung, die sich in der Musik als Melodie im volkstümlichen Sinne des Wortes offenbart. So waren hier tatsächlich alle starken Lebenselemente der Musik zwanglos vereinigt und offenbarten sich in ihren natürlichen Lebensformen, so daß der geniale Künstler gewissermaßenan den Quellen dieses Lebens zu schöpfen vermochte und in sich den harmonischen Ausgleich vollziehen konnte zwischen den bei allen anderen Völkern sich fast nur einzeln darbietenden Wesenskräften der Musik.
Für diese Entwicklung der Musik in Wien wurde es sicher auch zum Vorteil, daß hier vom Sturm und Drang, von der wilden Leidenschaftlichkeit und, später, den schweren Geisteskämpfen, unter denen die neue deutsche Dichtung in Mitteldeutschland, Norden und Westen durchgesetzt wurde, fast nichts zu spüren war. Nicht als ob hier geistige Stumpfheit geherrscht hätte, und als ob eine solche für die Entwicklung der Musik besonders günstig wäre; aber es fehlte doch der eigentliche Kampf. Man erhielt die Ergebnisse der Kämpfe, die drüben durchgemacht wurden. Mit jenen Kämpfen war eine Fülle rein geistiger Arbeit verbunden. Kritik auf allen Gebieten des Lebens mußte in schärfstem Maße geübt werden. So gewiß nun diese ungeheure Lebendigkeit, diese Anspannung aller Kräfte einen herrlichen Anblick gewährt, so sehr eine solche Zeit, wie verschiedene Beispiele belegen, günstig ist für das Herauswachsen einer die stärksten Probleme des Menschenlebens gewaltig ergreifenden Literatur, – die Musik gedeiht besser im Frieden.
Es ist eine der auffälligsten Erscheinungen in der Geschichte der Künste, daß in der Musik alle großen Bewegungen des geistigen und seelischen Lebens später zum Ausdruck gekommen sind als in den anderen Künsten. Man braucht ja nur daran zu denken, daß Palestrina, die reinste Verkörperung des mittelalterlichen Kirchengeistes, erst zur Wirkung gelangt, als auf den anderen Kunstgebieten die Hochrenaissance bereits vorbei ist; daß die musikalische Renaissance erst 1600 im Musikdrama ihr charakteristisches Werk schafft; daß später Richard Wagner die reinste Romantik verkörpert zu einer Zeit, als in unserer Literatur der Realismus bereits in höchster Blüte stand und der Naturalismus sich überall ankündigte. Und auch unser Mozart selber, auch wenn man ihn nicht fälschlich bloß als unvergleichlichen Rokokokünstler ansieht, sondern in ihm den Geist Rousseaus wirksam erkennt, läßt doch noch nichts von dem Sturm und Drang,von dem Faustischen, Titanischen, Prometheischen ahnen, das gerade zu seiner Zeit unsere ganze Dichtung einem Vulkane vergleichbar macht. Erst Beethoven bringt in der Musik diese Weltstimmung zur Geltung.
Allerdings muß man nun hinzusetzen, daß alle diese bedeutsamen Lebensregungen zweifellos in der Musik ihren reinsten, ihren unvermischtesten und darum auch eindrucksvollsten Ausdruck erhalten haben. Nicht einmal der gotische Dom ist so überirdisch, so übersubjektiv, so ganz Gesamtheitsausdruck, und zwar Ausdruck einer Gesamtheit, die ihr Ziel in einem Jenseits hat, wie Palestrinas Musik. Und die Sehnsucht nach dem Wiederbesitz des Altertums, als die sich doch die Renaissance äußerte, ist nirgendwo statt einer Wiedergeburt des bereits Gewesenen so ganz Neugeburt der Individualitäls-Sehnsucht der Menschheit geworden wie in der einstimmigen, von Instrumenten begleiteten Musik, zu der jene Renaissancebestrebungen führten. Nirgendwo ist die Liebenswürdigkeit des Rokoko so lauter und rein verbunden mit der Gefühlsseligkeit der süßen Schwärmerei der Rousseauzeit wie in Mozarts Opern. Nirgendwo ist das Faustische, das Titanische unvermischter Lebensinhalt einer ganz ungeheuren Kunst als bei Beethoven. Und endlich hat ja auch die Romantik sich nirgendwo gestaltungskräftiger, lebensfähiger und lebensspendender gezeigt als in Wagners Musikdramen. Sicher stehen dieses späte Erscheinen und die vollkommene Reinheit und Größe der Erscheinungen zu einander in Wechselbeziehung. Die Musik als Ausdruck entsteht erst, wenn das Herz übervoll ist von einem Gefühl, einem Empfinden. Die Musik ist gewissermaßen das Ventil, durch das die die Seele überfließenden Gefühle ausströmen. Es ist nicht die Zeit der schwachen Ahnungen noch auch die der mühseligen Kämpfe um das Neue, in der dieser Zustand der Seele eintritt,
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