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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Beynon Rees
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einer furiosen
Cadenza.
Sie erhob sich, atmete tief durch, triumphierte trotzig. Ihre rollenden, blinden Augen schienen im Publikum nach mir zu suchen.
    Als der Beifall für Paradis verebbte, stimmte das Orchester erneut. Maestro Salieri verbeugte sich in meine Richtung und deutete aufs Klavier.
    Mit unstetem Blick und einem Kälteschauer im Leib starrte ich ihn an. Vor Publikum hatte ich noch nie Lampenfieber gehabt. Auch jetzt nicht. Ich fürchtete mich vor Wolfgang. Was würde er von mir denken?
    Meine Beine zitterten. Ich konnte nicht aufstehen. Ich hörte das gedämpfte Husten und Murmeln des Publikums als steckte mein Kopf in einem Wasserbottich.
    Ich konnte es nicht. Wolfgang würde sich für mich schämen.
    «Madame de Mozart?»
    Ich blickte auf. Baron van Swieten streckte mir die Hand entgegen. Ein langer Schwall weißer Spitze quoll aus seiner Ärmelmanschette, doch die Hand war kräftig, und die Finger waren schwarz behaart.
    Ein sanfter Druck dieser starken Hand, und ich erhob mich. Er führte mich ans Klavier, das Tippen seines Gehstocks auf dem Boden das einzige Geräusch im Saal.
    Ich setzte mich ans Klavier und sah, wie er zu seinem Platz in der ersten Reihe zurückging.
    Als Solistin musste ich wie ein Dirigent agieren. Aber ich stellte fest, dass ich meine Hände nicht heben konnte. Einige der Musiker räusperten sich. Im Publikum kicherte jemand.
    Der Baron schnippte mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit der Bratschen und Cellos zu erregen. Genau wie ich erkannten die Musiker auf seinem Gesicht die Autorität. Er gab mit dem Handgelenk den Takt vor und führte das Orchester in den Marsch, mit dem das
Allegro
beginnt.
    Ich starrte die Hände auf meinem Schoß an. Die Tastatur schien unendlich weit von mir entfernt zu sein. Als ich zum Baron aufblickte, spürte ich Tränen in meinen Augen, und mein Unterkiefer zitterte. Er lächelte, nickte aufmunternd, und gab dann den Holzbläsern das Zeichen, das Thema zu beantworten.
    Wir näherten uns meinem Einsatz. Ich hob die Hände und bewegte sie durch die kurzen Läufe, mit denen das Klavier ins Konzert einstimmt. Als ich mich dem Schluss des Eröffnungssatzes näherte, spürte ich frische Kraft in meinen Fingern und Schultern. Ich improvisierte eine komplizierte, beschwingte Kadenz. Mein Körper fühlte sich schwerelos an, schwebte über dem Boden und über dem Schemel, war nur noch mit der Tastatur verbunden.
    Ich atmete tief durch und hob den Kopf in Richtung des Barons. Er dirigierte das Orchester in den ernsten zweiten Satz.
    Die Musik beruhigte mich. Jede Note sprach zu mir wie die Stimme meines Bruders, wenn wir als Kinder in der Kutsche, die mein Vater für unsere langen Tourneen gekauft hatte, von Stadt zu Stadt gerattert waren. Wolfgangs Lächeln erstrahlte auf der Tastatur, und sein Lachen scholl aus dem Inneren des Klaviers.
    Im letzten Satz stimmte mich das Tempo der Arpeggios und Läufe immer fröhlicher. Das heitere Thema hob mich zueinem derartigen Glücks- und Lebensgefühl, dass ich den Applaus kaum noch hörte.
    Baron van Swieten bedeutete mir, mich zu erheben.
    Voller Aufregung wippte ich auf meinen Zehenspitzen. Constanze schluchzte an der Schulter ihrer Schwester.
    In einem kräftigen Bariton rief der Baron «Bravo!». Er stand auf, und das Publikum tat es ihm nach.
    Als ich seinen Blick auffing, lachte ich. Mein Entzücken war rein und kindlich. Aber nicht wegen des Beifalls, sondern wegen der Musik.
    Er trat vor und hielt den Silberknauf seines Gehstocks in die Höhe, um das Publikum zum Schweigen zu bringen.
    «Unser lieber Maestro Mozart ist von uns gegangen», sagte er. «Er hat uns die erstaunliche Kraft seiner Musik hinterlassen, deren Geheimnisse wir als Laien wohl nur erahnen können. Aber er wusste, was wir bis zu diesem Moment nicht wussten, dass es noch jemanden gibt, die uns diese Geheimnisse offenbaren kann.» Er ergriff meine Hand. «Danke, Madame de Mozart, dass Sie uns den großen Geist Ihres verstorbenen Bruders wiedergeschenkt haben.»
    Ich zog die Oberlippe hoch und grinste. Es war nicht gerade die kultivierteste Geste, aber schließlich wusste niemand so gut wie ich, wie abwesend der Geist meines Bruders schon gewesen zu sein schien – und wie kraftvoll er zu mir zurückgekehrt war.
    Als das Publikum erneut applaudierte, schwor ich, Wolfgang für diesen Moment zu entlohnen, ganz gleich zu welchem Preis für meine Seele oder meinen Körper. Ich hatte in seiner Musik zu ihm zurückgefunden. Wir waren wieder

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