Mr. Fire und ich (Band 2)
alleine in der Business Class reist, für mich nichts Selbstverständliches ist und weil das Siezen eine unbewusste Reaktion ist, um die Distanz zu markieren, die zwischen mir und dieser Welt liegt – einer Welt der „ersten Klassen“, in der ich mich fremd fühle?
„Ich habe meine Eltern besucht. Sie leben seit zwei Jahren in New York.“
„Du lebst nicht bei ihnen?“
„Nein, ich bin lieber in Paris geblieben. Mein Vater ist ein Diplomat und meine Mutter … die Frau eines Diplomaten“, fügt er mit einem leicht verwunderten Blick und einem Hauch von Spott in seiner Stimme hinzu. „Als ich klein war, bin ich ihnen überall hin gefolgt. Mein Abitur habe ich in Paris gemacht. Ich mag die Stadt einfach und außerdem habe ich wirklich nette Freunde gefunden. Ich wollte nicht alles wieder aufgeben. Und meine Eltern wollten auch, dass ich bleibe.“
Vincent erzählt mir von seinem Leben, dem großen Appartement, das seine Eltern für ihn im 1. Arrondissement gemietet haben, von seinem Jurastudium, seinen sportlichen Interessen und von der Rockband, die er mit seinen Freunden gegründet hat und in der er Gitarre spielt. Ich sage mir, dass Vincent mir wie eine Karikatur vorkommt, der Typ Mann, von dem ich mich normalerweise ferngehalten hätte. Aber er ist nicht so überheblich, eine Eigenschaft, die ich mit den jungen Männern der Pariser Bourgeosie, zu der auch er gehört, eigentlich in Verbindung bringe. Er ist weder hochmütig noch herablassend, weder arrogant noch blasiert. Ganz im Gegenteil, seine natürliche Spontaneität und seine Bescheidenheit machen ihn sehr sympathisch.
Ich bleibe jedoch eher diskret und vermeide es, über meinen Aufenthalt in New York zu sprechen, ein Thema, bei dem ich sofort wieder an Daniel denken müsste und das mich infolgedessen aus der Bahn werfen würde. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, beobachten die anderen Passagiere und haben Spaß.
Plötzlich erinnert sich Vincent daran, dass ich Hunger hatte.
„Wolltest du nicht etwas essen?“
„Ja! Wie spät ist es?“
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr.
„Schöne Uhr!“, sagt Vincent, während er mein Handgelenk genauer unter die Lupe nimmt.
„Ja.“
Ich starre auf das Schmuckstück. Die anstrengende Partynacht, die Aufregung rund um die Abreise und die Müdigkeit haben dazu geführt, dass ich Daniels Geschenk gar nicht richtig betrachtet habe. Doch es stimmt, die Uhr ist wunderschön. Raffiniert, aber nicht prahlerisch. Das feine, runde Zifferblatt wird von kleinen Diamanten umrahmt. Ein Rubin ersetzt die Ziffer XII. Das Armband aus roségoldenen Gliedern verleiht der Uhr einen etwas maskulinen Look. Eine perfekte Kombination: schick, diskret und elegant.
Was will Daniel mir mit diesem Geschenk sagen? Ist es einfach nur eine kleine Aufmerksamkeit
(natürlich im Sinne des Tercari-Erben)
? Oder die Lust eines romantischen Machos, einer Frau schöne Dinge zu schenken
(was dem werten Mr. Fire sehr ähnlich sähe)
? Oder hat dieses Geschenk am Ende eine ganz andere Bedeutung? Die Antwort auf diese Frage ist möglicherweise zweideutig.
Diese Uhr kann eine Abmahnung sein:
Ich dulde keine Verspätung/Jetzt haben Sie keine Entschuldigung mehr
; gefolgt von einer Leidenschaft:
Ihre Zeit gehört mir/Sie werden sich meinem Rhythmus anpassen müssen
, die eine größenwahnsinnige Auffassung von Macht zum Ausdruck bringt:
Ich bin der Herrscher über die Zeit/Ich kontrolliere alles
; oder, ohne zu weit gehen zu wollen, um mir ein für alle Mal klar zu machen, dass die Zeit, seine Zeit, etwas sehr Wertvolles ist, das er weder verschwenden noch für unnötige Angelegenheiten opfern möchte.
Man könnte aber auch annehmen, dass diese Uhr auf die Wartezeit anspielt:
Ich warte auf Sie/Ich kann es kaum erwarten, dass wir uns in der gleichen Zeitzone befinden: Mit diesem Zifferblatt vereine ich uns in einer gemeinsamen Zeit
; oder die Uhr symbolisiert die Lust und die Beständigkeit der Beziehung, indem sie die Vergangenheit ehrt und die Zukunft würdigt.
Diese Uhr spiegelt die Zweideutigkeit von Daniels Charakter wider (das Feuer, das in ihm lodert, und die Kälte, die ihn umgibt), ohne dass ein Aspekt überwiegen würde.
Und nicht einmal die kurze Botschaft, die er dem Geschenk beigelegt hat, kann meine Frage beantworten, denn er erwähnt die Uhr nicht im Geringsten. Ich krame in meiner Tasche, auf der Suche nach dem kleinen Heftchen, in das ich die Nachricht gesteckt habe. Da ist es ja. Ich lese die Zeilen erneut. Wie
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