Mr. Hunderttausend Volt!
Badezimmerspiegel die dicke Beule an, die ihr an der Stirn gewachsen war. Es sah aus, als ob sie sich ein Hühnerei der Güteklasse XXL unter die Haut geschoben hätte. Und das Ding schwoll immer noch an, obwohl Jessie bereits mehrfach einen, in kaltes Wasser getauchten, Lappen darauf gepresst hatte.
Sie wäre am liebsten geplatzt vor Zorn, aber das nützte leider weder ihr noch ihrem Freund. Oh ja, sie wusste genau, wer dieser Berserker gewesen war, der ihn mitgeschleift hatte. Jonas Jonathan Carpenter, kurz J.J. Carpenter genannt, ein Choleriker und Diktator, vor dem wahrscheinlich sogar der Saddam Hussein gekuscht hätte. Ein Kotzbrocken, dem das Geld nur so aus den Taschen quoll und der nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen wusste, als seinen einzigen Sohn J.J. Daniel tagein tagaus zu tyrannisieren.
Daniel Carpenter sollte einmal den mächtigen Konzern übernehmen, den seine Urväter auf- und sein Vater ausgebaut hatte. Ein harter, ehrgeiziger Geschäftsmann sollte aus Danny werden, immer den Firmengewinn und die Vermehrung des Firmen- und Privatvermögens im Blick. Da passten so schöngeistige Interessen wie Musik, Lyrik und Malerei überhaupt nicht ins Konzept.
Okay, als High-Society-Mitglied musste man über solche Dinge reden können. Aber sie betreiben, das sollte man in den Kreisen, in denen sich Papa und Sohn Carpenter bewegten, besser nicht. Man hätte sie rasch für schwule Waschlappen halten können. Etwas, was nicht nur dem Ruf sondern vor allem dem Unternehmen schaden konnte. Und das würde J.J. Carpenter niemals dulden!
Jessica hatte Daniel Carpenter in der Mensa der University of Denver kennen gelernt, wo sie sich stundenweise als Küchenhilfe ihr Geld für Miete und Essen verdiente. Ihr waren sofort seine dunklen schwermütigen Augen hinter den runden Brillengläsern aufgefallen, Daniel an ihr die rotblonden Haare, die sie während der Arbeit unter einer weißen Haube verstecken musste. Aber eine Strähne rutschte immer darunter hervor und hing ihr in die Stirn.
Sie hatten sich angefreundet, wie sich junge Leute eben anfreunden und Daniel hatte Jessica stundenlang seine neuesten Kompositionen vorgespielt, die er nachts in seiner Studentenbude schrieb.
Eigentlich studierte Daniel Betriebswirtschaftslehre und Arbeitspsychologie. Er war todunglücklich unter all den fantasielosen Wirtschaftstypen, die alle nur eins im Sinn hatten: Möglichst schnell ihren Abschluss machen und in Papas Fußstapfen treten.
Daniel wollte nicht in den ausgelatschten Pfaden seiner Vorväter wandeln. Er wollte Musik machen, weshalb er meistens in seine Gitarre träumte, statt an den Vorlesungen teilzunehmen und in Jessica hatte er eine Freundin gefunden, die ihn in seinem Bestreben unterstützte, sein Talent auszubauen und zu vervollkommnen.
Ihrer Meinung nach war Daniel bei den Betriebswirtschaftlern völlig fehl am Platze. Er hatte weder den rationalen Verstand noch das Verständnis für Mathematik oder das Talent für stures Paragraphenpauken, das für dieses Studium nun mal unerlässlich war. Seine Art, sich auszudrücken, war die Musik und wenn man ihm die Möglichkeiten dazu verschloss, dann ging er ein wie eine Pflanze, der man Licht und Wasser verwehrte.
Leider war sein Vater davon nicht zu überzeugen. Zwischen den beiden war es deshalb bereits mehrfach zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Aber Daniel war, was den Starrsinn anging, ganz der Sohn seines Vaters. Er ging trotzdem weiterhin seiner Berufung nach, während J.J. Carpenter ihn im Hörsaal der University of Denver wähnte, aufmerksam einer Vorlesung lauschend, die von der ökonomischen Entwicklung eines Landes mit oder ohne industrielle Struktur im Jahr irgendwann handelte.
Jessica hatte nicht vor, sich in den Streit zwischen Vater und Sohn einzumischen. Sie war für ein Jahr nach Denver gekommen, um ein kleines Stück Amerika kennenzulernen, nicht um sich um fremde Familienangelegenheiten zu kümmern.
Zwar war ihr die Freundschaft mit Daniel ungemein wichtig, sie unterstützte ihn in seinen Plänen und machte ihm Mut, wenn er mal wieder von irgendeinem Plattenlabel eine Absage erhalten hatte, aber mit seinem Vater wollte sie lieber nichts zu tun haben.
Heute war J.J. Carpenter allerdings so brachial in ihr Leben getreten, dass sie sich ernsthaft überlegte, ob sie ihm nicht einmal die Meinung sagen sollte.
"Du siehst aus, als wolltest du auf eine Halloweenparty gehen", meldete sich Chrissy, die an die Badezimmertür gelehnt, zusah,
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