Mr. Joenes wundersame Reise
der Gerechtigkeit falsch waren. Daher gab es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt nicht, und es gab darüber hinaus nichts, was sich daraus ableiten ließ.
So schlimm dies war, schlimmer waren jedoch die Erkenntnisse, die sich für mich daraus ergaben: 84
daß es da, wo es keine Gerechtigkeit gab, auch keine Freiheit oder menschliche Würde geben konnte; daß da nur Platz war für perverse Illusionen, wie ich sie bei meinen Zellengenossen kennengelernt hatte.
Und so geschah es, daß ich meinen Sinn für Ehrlichkeit verlor, ein Gut, viel erstrebenswerter als Gold, ein Verlust, den ich an jedem Tag meines Lebens aufs neue bedauere.«
*
Am Ende dieser Geschichte meldete sich der dritte Lastwagenfahrer zu Wort: »Niemand will leugnen, daß Sie viel Unglück gesehen und erlebt haben, Joenes. Doch im Vergleich mit dem, was meine Freunde Ihnen gerade erzählt haben, sind Ihre Erlebnisse lächerlich. Und die schlimmen Erfahrungen meiner Freunde sind gegenüber den meinen ebenfalls unbedeutend. Denn ich bin wohl der un-glücklichste unter den Menschen, habe ich doch etwas weitaus Wertvolleres als Gold verloren, wertvoller noch als Naturwissenschaft und Ehrlichkeit; diesen Verlust beweine ich jeden Tag meines Lebens.«
Joenes bat den Mann, seine Geschichte zu erzählen. Und so lautet der Bericht des dritten Lastwagenfahrers.
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DIE GESCHICHTE VOM RELIGIÖSEN
LASTWAGENFAHRER
Ich heiße Hans Schmidt, und das Land meiner Geburt ist Deutschland. Als junger Mensch erfuhr ich von den Schrecken der Vergangenheit, und das machte mich traurig. Dann informierte ich mich über die Gegenwart. Ich unternahm eine lange Reise durch Europa und sah dabei nichts anderes als Kanonen und Festungen, welche von der deutschen Grenze im Osten bis hinauf nach Norwegen und von der Nordsee bis zum Mittel-meer verstreut waren. Unzählige Meilen dieses Schutzwalls gab es dort, wo früher einmal Dörfer und Wälder gewesen waren, alles perfekt getarnt, alles nur zu dem Zweck, damit die Russen und die Osteuropäer zusammenzuschießen, sollten sie auf den Gedanken kommen, uns anzugreifen. Dies machte mich deshalb traurig, weil ich daran erkennen konnte, daß die Gegenwart mindestens ebenso schlimm war wie die Vergangenheit und nichts anderes darstellte als eine Periode der Vorbereitung auf die nächsten Grausamkeiten und den nächsten Krieg.
Niemals hatte ich an den Segen der Naturwissenschaft geglaubt. Auch ohne die Erfahrungen unseres schwedischen Freundes konnte ich deutlich erkennen, daß die Naturwissenschaft auf der Erde keine Verbesserungen geschaffen hatte, sondern 86
vielmehr großes Leid über uns gebracht hatte. Auch glaubte ich nicht an die menschliche Gerechtigkeit, an das Gesetz, die Freiheit oder Würde. Auch ohne die Erfahrungen meines mexikanischen Freundes konnte ich selbst erkennen, daß das menschliche Gerechtigkeitsmodell und alles, was sich daraus ableitete, bis auf den Grund fehlerhaft war.
Niemals jedoch hatte ich die Einzigartigkeit des Menschen angezweifelt und seinen besonderen Platz im Universum. Doch ich war gleichzeitig der Überzeugung, daß der Mensch sich aus eigener Kraft niemals würde aus den Fesseln seiner tier-haften Natur lösen können.
Deshalb suchte ich nach etwas Größerem, Höhe-rem als dem Menschen. Ich wandte mich mit aller Konsequenz der Religion zu. Darin lag die einzige Erlösung des Menschen, seine Würde, seine einzige Freiheit. Darin konnte man all die Ziele und Träume der Wissenschaft und des Humanismus finden. Und selbst wenn der religiöse Mensch un-vollkommen ist, so ist immer noch das, was er verehrt und anbetet, vollkommen.
Das war es jedenfalls, was ich damals mit hei-
ßem Herzen glaubte.
Ich hatte dabei keine besondere Richtung, sondern ich beschäftigte mich intensiv mit allen Glau-bensgemeinschaften, fühlte ich doch instinktiv, daß die Religion die Brücke war, die zu etwas hinführte, das größer war als der Mensch.
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Ich schenkte mein Geld den Armen und wanderte mit Stock und Rucksack über das Antlitz der europäischen Erde und suchte immer wieder nach Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Meditation.
Das Vollkommene, so heißt es in vielen Religionen, entsteht auf der Erde.
Eines Tages gelangte ich an eine Höhle hoch oben in den Pyrenäen. Ich war sehr müde und betrat die Höhle, um mich dort auszuruhen. In der Höhle fand ich eine größere Ansammlung von Menschen. Einige waren schwarz gekleidet, andere wiederum trugen überreich verzierte Kostüme. In ihrer
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