Mr. Lamb
das?«
»Wo?«
Er zeigte mit dem Finger. Drei Häuser weiter ragte die Terrasse eines kleinen Restaurants über das Wasser, mit quadratischen Fenstern, die warm und hell in der tropfenden Trübseligkeit leuchteten.
Ihre Schuhspitzen waren vom Regen durchnässt, und Lamb bat die Kellnerin, ihnen einen Tisch neben dem großen steinernen Kamin zu geben, in dem ein Feuer brannte. Als sie saßen, hob Lamb einen Finger an die Lippen, beugte sich unter den Tisch, zog dem Mädchen die Schuhe aus und stellte sie auf die Steinumrandung des Kamins.
»Gary!«
»Guck doch«, sagte er und drehte sich zu ihr um. »Da sehen sie richtig gut aus.«
Er guckte in die leinengebundene Speisekarte und bestellte cremige rote Suppe für sie beide, die in kleinen Keramikschüsseln serviert wurde, er bestellte in Streifen geschnittene Gänseleber-Sandwiches und heißen Tee für sie beide, und er fragte sie nach ihrer Mutter, nach Jessie, wie sie ihre Tage verbrachten und ob sie die Mahlzeiten zusammen einnahmen? Nie? Wann ging sie ins Bett? Keine festen Zeiten? War das eine gute Idee? Wessen Idee war es? Stand sie morgens von selbst auf, oder weckte ihre Mom sie? Was aß sie zum Frühstück? Machte sie sich ihr Frühstück selbst? Jeden Morgen? In welchem Supermarkt kauften sie ein, und gab es etwas, das sie nicht kaufen durfte? Wirklich? Aber das war doch seltsam. Warum kaufte ihre Mutter ihr keine Cashewnüsse? Was gab es daran auszusetzen? Und was hing ihr allmählich zum Halse raus? Ah, sagte er, Cap’n Crunch, das ist kein Essen. Bei Burger King, sagte er zu ihr, gab es kein Familienessen. Und verbrachten sie am Wochenende Zeit miteinander? Waren sie schon mal zusammen im Morton Arboretum gewesen? Noch nie? Im Art Institute?Im Field Museum? Aber das war eine Schande. Geradezu kriminell. Und was war das größte Geheimnis, das sie vor ihnen verbarg? Wo hob Jessie denn die Zeitschriften auf? Und wie oft guckte sie sich die Zeitschriften an? Und was war das Schlimmste, was sie je gemacht hatte? Sie hatte bei Sid Alkohol probiert? Schrecklich, das war ja schrecklich, sie war ja doch ein böses Mädchen.
»Dass aus dir nicht ein Mädchen wird, das zu viel trinkt!«
»Bestimmt nicht.«
So beriet und befragte er sie, und das Mädchen beantwortete alle seine Fragen, als wäre Tommie eine andere Person, an der sie beide ein außerordentliches Interesse hatten. Sie wurde für sich selbst zum Projekt, zweigeteilt, wie das oft bei Jugendlichen ist, und er bekam es genau mit.
Draußen, vor dem Fenster hinter ihrem Kopf, fiel der Regen wie ein grauer Schleier. Sie wollte wissen, was er sah, und drehte sich um.
»Nichts«, sagte er. »Hier drin sieht dein Haar aus wie der Regen.«
»Kann ich mir denken.«
»Ich meinte das als Kompliment.«
»Oh.«
»Wenn jemand dir ein Kompliment macht, liebe Tommie, verlangt es die Höflichkeit, dass man Danke sagt.«
»Danke.«
»Dein Haar sieht in dem Licht silbrig aus.« Er saß ganz still und senkte die Stimme, dass es fast ein Flüstern war. »Du bist das Silbermädchen. Hab ich recht?«
Sie sah ihn aufmerksam an.
»Ich habe das Silbermädchen überall gesucht«, sagte er. »Und es ist zu schade, denn wenn unser Lunch vorbei ist, muss ich dich in meinen Wagen setzen und nach Hause fahren und michvon dir verabschieden.« Seine Gedanken schwankten hin und her, zwischen Mitleid für das Mädchen und dem Wunsch, sie zu zerdrücken, zu zermalmen, zu ihrem eigenen Guten. Denn er wusste genau, wie ihr Leben aussehen würde, wenn er sie wieder nach Hause brachte, und es war ein trostloses und schreckliches Geheimnis, das er und die ganze Welt vor ihr verborgen hielten, und dass er es vor ihr verborgen hielt, war das Schlimmste überhaupt, weil sein Auftauchen in ihrem Leben – diese plötzlich entstandene und ungewöhnliche Freundschaft – möglicherweise der einzige Lichtblick war, die einzige Abweichung von einem ansonsten vorbestimmten Lebensweg. Sie saß eine Armlänge entfernt. Er konnte sie erreichen, konnte ihr noch etwas zeigen, nur kurz, eine Seite in ihrem Lebensbuch füllen. Auch war sie nah genug, dass er sie warnen konnte.
Mit einem blanken Löffel aß sie Crème fraÎche und die letzten Blaubeeren des Sommers aus einem Glasschälchen.
Er beugte sich über den Tisch, schob Salz- und Pfefferstreuer beiseite und bedeutete ihr mit dem Zeigefinger, näher zu kommen.
»Weißt du was, Tom? Ich würde nichts lieber tun, als den ganzen Tag hier mit dir zu sitzen und uns abends um acht ein
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