Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
Vom Netzwerk:
gestaut hat, zu lockern und dem Herzen freien Lauf zu lassen. Das ist gar nicht so leicht, wie es klingt.
    Im Foyer des Hotels war alles weiß. Der Fußboden aus gebleichten Keramikkacheln, die hohe mattierte Decke, getragen von glatten, aschgrauen Marmorsäulen. Tommie sah sich staunend um, als wäre sie in eine andere Welt transportiert worden.
    »Hast du Angst?«, fragte er im Aufzug.
    »Nein.«
    Schweigend schwebten sie nach oben.
    »Bist du auch ehrlich?«
    »Ich war noch nie in so einem Haus.«
    »Ich weiß.«
    »Bist du richtig reich?«
    Die Türen öffneten sich.
    »Hör zu«, sagte er, als sie den Flur entlanggingen. Sie schob sich die Haare aus dem Gesicht. Wie eine kleine Frau. »Das hier ist bloß eine Zwischenstation, verstehst du? Es steht noch nicht fest, ob wir die Reise machen. Wir gehen in kleinen Schritten vor.« Er schloss die Tür mit der kleinen Plastikkarte auf und ließ ihr den Vortritt. »Und vielleicht machen wir sie gar nicht.«
    Das Zimmer war warm und trocken, ein Geruch von Citrus, Balsam und reinem Leinen erfüllte die Luft. Das Cremeweiß der Daunendecken und die gestrichenen Wände erschienen in sanftem Licht. Vor den großen Fensterscheiben spannte sich der dunkle Himmel und brach auf. Lamb und das Mädchen standen einen Augenblick an der Tür, als wäre das Zimmer für andere Gäste gedacht.
    »Möchtest du das Bett am Fenster oder das beim Bad?«
    »Eh, am Fenster.« Sie ging hinein.
    »Gut.«
    Er klappte den Schrank auf, schaltete den Fernseher an und suchte nach Sendern. »Was guckst du gern? Cartoons?«
    Sie verdrehte die Augen. »Mann!«
    Er warf ihr die Fernbedienung zu und zog den Reißverschluss an seiner Jacke hoch.
    »Gehen wir weg?«
    »Ich gehe weg. Ich gehe einkaufen.«
    »Für die Fahrt?«
    »Ja«, sagte er. »Für die Fahrt.«
    »Wie lange brauchen wir bis dahin?«
    »Zwei Tage.«
    »Wie können wir dann nach fünf Nächten zurück sein?«
    Er sah auf seine Hände und bewegte den Mund, während er im Kopf nachrechnete. »Genau deshalb machen wir es in kleinen Schritten«, sagte er. »Damit wir nichts Dummes machen. Vielleicht sind es auch sieben Nächte. Oder zehn.«
    »Kann ich jetzt nicht mitkommen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Drei Gründe. Erstens, hier ist es schön warm. Und wir wollen nicht, dass du krank wirst. Zweitens, ich möchte, dass du eine Stunde lang allein bist. Du weißt, wie du von hier nach Hause kommst, oder? Mehr oder weniger?«
    Sie sah ihn verständnislos an, deshalb zog er die Schublade an dem kleinen weißen Schreibtisch auf und nahm den Ordner mit Informationen für die Gäste heraus. »Hier.« Er legte vier Zwanzigdollarscheine auf den Schreibtisch. »Für ein Taxi nach Hause. Und ein bisschen mehr.«
    »Ich will nicht nach Hause.«
    »Ich möchte, dass du es dir überlegst. Ich möchte, dass du inder nächsten Stunde gründlich darüber nachdenkst, ob du bleiben und auf mich warten möchtest. Für andere Leute wird das hier so aussehen, als würde ich dich entführen. Hab ich recht?«
    »Oh.«
    »Ich habe recht. Ich bin vierundfünfzig, und du?«
    »Elf.«
    Er atmete scharf ein. Himmel! Er hatte sie für wenigstens dreizehn gehalten. Elf. Das war näher an fünf als an achtzehn. Ihre Freundinnen sahen nicht wie elf aus. Die Blonde, zum Beispiel – die konnte als sechzehn durchgehen. Er sah auf seine Hände. Auf den Boden. Er sah sie nicht an, als er ihr den dritten Grund nannte.
    »Und drittens, du bist hier«, sagte er, »allein in einem Hotelzimmer mit einem Fremden. Und du bist elf.«
    »Aber du bist kein Fremder.«
    »Trotzdem. Vielleicht wird dir etwas mulmig.«
    »Mir ist nicht mulmig.«
    »Vielleicht erlaubst du dir nicht, dieses Gefühl zu haben. Denk über all die verschiedenen Gefühle nach, die ein Mädchen in deiner Situation haben könnte. In Ordnung? Sag: In Ordnung, Gary.«
    »In Ordnung, Gary.«
    »Und dann, solltest du dich entschließen, zu bleiben, dann möchte ich, dass du das Zimmer zu deinem machst. Räum ein paar Dinge um. Stell die Schuhe da drüben hin, wasch dir das Gesicht, zerwühl die Kissen. Tu, als wäre es dein Zimmer. Und wenn ich zurückkomme, dann ist es so, als würdest du mich in dein Zimmer einladen, okay?«
    »Du bist komisch.«
    »Das kann schon sein. Aber ich weiß, wovon ich rede. Und wenn ich zurückkomme und du nicht willst, dass ich reinkomme, dann kannst du mir meine Sachen geben und ich nehmemir ein anderes Zimmer. In Ordnung?« Er hatte vorgehabt, kraftvoll und überzeugend zu wirken,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher