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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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gingen auf der Straße nach Südwesten. Lastwagen und uralte Klapperkisten fuhren an ihnen vorbei, aber keiner wollte sie mitnehmen, also hörten sie schließlich auf zu winken. In jedem vorbeifahrenden Wagen sah Connelly die schmutzigen Gesichter kleiner Kinder, die sie anstarrten, bevor sie in Wolken aus Staub und Abgasen verschwanden.
    Der Staub wurde schlimmer, genau wie die Dürre. Als wären sie auf dem Mond gelandet. Alles war rot und braun, und der Staub wurde immer feiner. Schon ein Schritt wirbelte eine Staubwolke bis zu ihren Schultern auf, alles nahm die Farbe von Ton an.
    Eines Nachts verließen sie die Straße und kampierten auf einem Feld direkt neben einem alten Wassertank. Sie aßen Hühnchen und Bohnen, die sie unterwegs gekauft hatten, und Roosevelt zog eine Mundharmonika hervor und erwies sich als begnadeter Musiker. Sie lauschten ihm, während sie sich am Feuer wärmten.
    »Wo haben Sie das gelernt?«, fragte Connelly.
    »Im Knast«, sagte Roosevelt. »In Chicago saß ich mal wegen Körperverletzung. Bloß eine Kneipenschlägerei, jemand brach sich das Bein. Nach einem Jahr war ich wieder draußen, alles war überbelegt, und ich konnte gute Führung nachweisen. Was soll’s, jeder war doch schon mal im Knast, und wenn auch nur für eine Weile.«
    »Nein«, sagte Connelly.
    »Ich nicht«, sagte Hammond.
    »Ich auch nicht«, sagte Pike.
    »Oh.« Roosevelt runzelte die Stirn. »Nun, ich vermute mal, äh, in bestimmten Kreisen in bestimmten Städten ist das ganz normal.« Und er spielte leise weiter.
    »Ich hatte einen Nachbarn, der konnte genauso gut spielen«, sagte Connelly. »Vielleicht hat er es ja auch im Knast gelernt. Wir hörten ihn immer abends durch das offene Fenster spielen, wir saßen einfach da und hörten zu. Mir gefällt die Vorstellung, dass er wusste, dass wir zuhörten. Als hätte er darauf gewartet, dass wir uns zum Essen setzten, damit er genau dann spielen konnte.«
    »Vermissen Sie es?«, fragte Pike.
    »Es vermissen?«
    »Das sesshafte Leben. Ihr Zuhause. Vermissen Sie das?«
    »Ja. Ja. Natürlich tue ich das, ja.«
    »An mein Zuhause kann ich mich manchmal schon nicht mehr erinnern. Es ist so lange her. Ich war noch ein junger Bursche, kam frisch vom Militär und besuchte Erweckungsgottesdienste. Ich erinnere mich an Mädchen mit Zöpfen und Augen wie Honig. Ich erinnere mich an den Geruch vom Brotbacken. Aber alles andere ist weg. Woran erinnern Sie sich, Connelly?«
    Er dachte nach. »Das Lachen.«
    »Das Lachen?«
    »Nur das Lachen. Und die Augen meiner Tochter. Sie waren grün.«
    »Was ist mit Ihrer Frau passiert?«
    »Nichts. Ich habe sie noch immer. Sie wartet auf mich. Ich kehre zu ihr zurück, falls sie mich zurücknimmt. Sobald das hier erledigt ist, kehre ich nach Hause zurück. Und alles ist wieder in Ordnung. So wie es früher war.«
    Pike und Roosevelt tauschten einen Blick. Dann stand Hammond auf und verließ das Lagerfeuer. Connelly sah ihm nach, dann blickte er die anderen überrascht an.
    »Manchmal ist er eben so«, erklärte Roosevelt. »Er ist jünger, als er aussieht. Ich glaube, er ist noch nicht einmal fünfundzwanzig.«
    »Er kommt zurück«, sagte Pike. »Morgen früh ist er wieder da. Es muss sehr seltsam sein, noch so jung zu sein und zu wissen, dass man kein normales Leben mehr haben wird. In gewisser Weise hat er vielleicht mehr verloren als der Rest von uns.«
    »Nein«, sagte Connelly. »Das hat er nicht.«
    Pike nickte. »Vermutlich nicht.«
    Schließlich legten sie sich wieder einmal schlafen. Und als Connelly die Augen schloss, sah er die Wüste.
    Weißer Sand erstreckte sich bis zum durchdringend blauen Horizont. Vom Himmel schien eine glühend heiße und unnachgiebige Sonne, deren Strahlen die Sandhügel wie gefallener Schnee funkeln ließ. In der Ferne erhoben sich zerklüftete, schlammbraune Bergmassive. Der Wind wehte stark genug, um einen Mann von den Füßen zu reißen.
    Connelly blinzelte, über seinen Aufenthaltsort erstaunt. Aber irgendwie wusste er, dass er auf etwas wartete. Etwas näherte sich.
    Er sah es in der Ferne. Bewegung. Etwas Kleines. Er kniff die Augen zusammen, aber die Sonne machte jedes Erkennen unmöglich. Es kam näher, und bald wurde ihm klar, dass es sich um einen Mann handelte. Einen jungen Mann, der direkt auf ihn zukam, und dann sah Connelly, dass er hochgewachsen und bleich war, dürr und nackt. Blutverschmiert. Halb ging, halb taumelte er durch den Sand; er ließ die Arme an den Seiten baumeln, und sein

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