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Mr. Shivers

Mr. Shivers

Titel: Mr. Shivers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Jackson Bennett
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Wochen, dann zu Monaten. Der Teil von Connellys Verstand, der noch arbeitete, glaubte, dass er krank war, eine Entzündung, vielleicht auch nur eine weitere Gehirnerschütterung. Er zitterte den ganzen Tag und die ganze Nacht, und als die Deputies Wasser und Essen brachten, aß er nichts und trank auch nichts. Sie lachten, als sie den noch immer vollen Teller wieder mitnahmen; ihr Kichern drang durch den Schlitz in der Tür, und manchmal glaubte er, sie würden auf der anderen Seite stehen bleiben, ihn beobachten und dabei lächeln.
    Das Jaulen in seinen Ohren wurde von Tag zu Tag lauter, der Druck in seinem Kopf wuchs, als wäre er ein Ballon. Er machte das Schlafen und beinahe jeden Gedanken unmöglich. Schon das Atmen fiel schwer mit dem Lärm in seinem Kopf, der seinen Verstand zu Mus verarbeitete. Er versuchte, sich an die Stirn zu fassen, um seine Körpertemperatur zu schätzen, aber seine Hände waren schweißnass und klebrig. Ununterbrochen zitterte er am ganzen Leib. Er versuchte seine Hautfarbe einzuschätzen, indem er die Handrücken untersuchte, aber dazu war es viel zu dunkel.
    Das Idol, das er gemacht hatte, war am ersten Morgen verschwunden. Kein Splitter und kein Faden waren mehr übrig, um zu beweisen, dass es je da gewesen war. Vermutlich war in der Nacht etwas gekommen, war aus der Dunkelheit hervorgekrochen und hatte es verschlungen, bevor es sich wieder zurückzog. Also machte er ein neues Idol. Als das in der darauffolgenden Nacht verschwand, machte er das nächste und das übernächste. Und auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, hatte er dennoch irgendwie das Gefühl, dass diese kleinen Seelen, die er in der dunklen Zelle erschaffen und gesegnet hatte, ihn am Leben hielten und den Tod abwehrten. Dass sie ihm jedes Mal, wenn sie verschwunden waren, einen weiteren Tag erkauft hatten.
    Er versuchte mithilfe des Sonnenlichts oben am Fenster die Tage zu zählen, aber das funktionierte nicht, da das Licht mit jeder verstreichenden Minute dunkler wurde, als würde die Sonne selbst verblassen oder die Zelle ihr Licht auffressen. Peachy redete ununterbrochen, Tag und Nacht, erzählte ihm von seiner Familie und seiner Mutter und seiner Schwester, wie er am Flussufer Barsche gegrillt und am Abend Ale getrunken hatte, erzählte von Küssen, die süßer waren als Wein. Manchmal sang er auch, und dann schien sich Connellys Krankheit immer etwas zu bessern. Er wusste, dass Peachy es tat, um nicht den Verstand zu verlieren, aber das war ihm egal.
    Dann kam die Nacht, in der Peachy schlief und Connelly nicht genug Stimme hatte, um ihn zu wecken. Er lauschte und glaubte taub zu sein; er blinzelte und glaubte blind zu sein, und wenn er die Bohlen unter sich berührte, war es, als würde er ins Leere greifen.
    Und Connelly sagte sich: Ich sterbe. Und er glaubte es. Vielleicht war er ja schon gestorben.
    Dunkelheit stürzte sich auf ihn, tropfte aus den Zellenecken und verschluckte ihn. Eine scheinbar endlose Zeit lag er da und starrte die Wand an. Und als er die Augen schloss, sah er die Wüste.

    Weiß und braun und blau. Der blasse Horizont der Wüste brannte gegen das kühle Azurblau des sich darüber befindenden Himmels. Trockene Luft strich über ihn hinweg, und er blinzelte, als die Flüssigkeit in seinen Augen verdampfte. Er nahm seine ganze Konzentration zusammen und sah sich um.
    Er saß auf einem kleinen Hügel und schaute in ein gewaltiges Tal hinunter. Die Sonne brannte aus dem wolkenlosen Himmel, und zu seiner Linken und Rechten formten große Plateaus den Talrand; ihre faltigen rostroten Hänge fielen schräg ab, dem elfenbeinfarbenen Wüstenboden entgegen. Die Luft war so frisch und heiß, dass sie sich elektrisch anfühlte. Ein Land, so eindrucksvoll und wunderschön, dass es im Herzen wehtat.
    »Sieh«, sagte eine Stimme, und er wandte den Kopf und sah den bleichen jungen Mann neben sich sitzen, der noch immer blutverschmiert war. Sein flachsfarbenes Haar flatterte im Wind. Noch immer leuchtete ein breiter roter Strich auf seiner Stirn, wie ein Mützenrand. Der junge Bursche deutete auf die vor ihnen liegende Wüste.
    Connelly drehte sich um. Da war Bewegung in dem Talkessel. Auf der gegenüberliegenden Seite schienen die Plateauränder beinahe zu erbeben, wie unter dem Steinschlag, der einem Erdrutsch voranging. Aber als Connelly genauer hinsah, erkannte er, dass sich nicht der Stein bewegte, sondern Männer, Männer mit dunkler Haut und langem schwarzem Haar. Sie strömten über einen

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