Mr. Vertigo
geschlendert und hat den New Yorker Jungstar sehr alt aussehen lassen. Dabei hing der Ausgang an einem seidenen Faden. Vor dem dritten Strike knallte Lazzeri einen in die Tribüne hinter dem Left Field, einen sicheren Grand Slam, der in letzter Sekunde ins Aus ging. Die Haare konnten einem zu Berge stehen. Im achten und neunten klopfte Alexander den Sieg dann endgültig fest, und zur Krönung des Ganzen gingen Spiel und Series damit zu Ende, dass Babe Ruth, der größte Batter aller Zeiten, bei dem Versuch, sich zur Second Base zu stehlen, rausgeworfen wurde. Das war noch nicht dagewesen. Es war das verrückteste, das verteufeltste Spiel der Geschichte, und meine Cardinals hatten gewonnen, sie waren die beste Mannschaft der Welt.
Das war ein Wendepunkt für mich, ein entscheidendes Ereignis in meinem jungen Leben, ansonsten aber war dieser Herbst bloß trist und grau, eine endlose Zeit der Langeweile und Stille. Nach einer Weile wurde ich so kribbelig, dass ich Äsop fragte, ob er mir nicht das Lesen beibringen könne. Er war durchaus bereit, musste das aber zunächst mit Meister Yehudi besprechen; ich gebe zu, es kränkte mich ein bisschen, als der Meister seine Zustimmung gab. Wie oft hatte er davon gesprochen, dass er mich dumm halten müsse – dass das für meine Ausbildung von Vorteil sei –, und jetzt war er ungeniert und ohne ein Wort der Erklärung davon abgegangen. Eine Zeitlang glaubte ich, das könne bloß bedeuten, dass er mich aufgegeben hatte; die Enttäuschung traf mich bis ins Mark, und in dieser bedrückten Stimmung sah ich all meine schönen Träume zu Staub zerfallen. Was hast du bloß falsch gemacht, fragte ich mich, warum lässt er dich im Stich, wo du ihn am meisten nötig hast?
Also lernte ich mit Äsops Hilfe die Buchstaben und Zahlen, und nach den ersten Schritten ging es so schnell, dass ich mich fragte, was das ganze Theater eigentlich gesollt hatte. Wenn aus dem Fliegen nichts wurde, konnte ich den Meister wenigstens davon überzeugen, dass ich kein Dummkopf war; andererseits erforderte es so wenig Mühe, dass mir der Sieg ziemlich wertlos vorkam. Als im November unsere kargen Vorräte plötzlich aufgefüllt wurden, besserte sich die Stimmung im Haus vorübergehend. Ohne irgendwem zu verraten, wo er das Geld dafür hergenommen hatte, hatte der Meister heimlich eine Lieferung Konserven bestellt. Als sie kam, erschien uns das wie ein Wunder, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Eines Morgens hielt ein Laster vor unserer Tür, und zwei stämmige Männer luden Kartons von der Ladefläche. Es waren Hunderte, und jeder enthielt zwei Dutzend Konservendosen: zig verschiedene Sorten Gemüse und Fleisch, Suppe und Pudding, eingemachte Aprikosen und Pfirsiche, absolut unvorstellbare Mengen. Die Männer brauchten eine Stunde, um das alles ins Haus zu schleppen, und die ganze Zeit stand der Meister mit verschränkten Armen daneben und grinste wie eine verschlagene alte Eule. Äsop und ich staunten Bauklötze. Nach einer Weile rief uns der Meister zu sich und legte jedem von uns eine Hand auf die Schulter. «An Mutter Sioux’ Kochkünste kommt es natürlich nicht heran», sagte er, «aber es ist doch immerhin besser als ewig nur Brei, was, Jungs? Vergesst nie, auf wen ihr zählen könnt, wenn es mal hart auf hart kommt. Egal, wie tief wir in der Klemme stecken, ich werde immer einen Weg finden, uns wieder herauszuziehen.»
Wie immer er es bewerkstelligt hatte, die Krise war vorüber. Unsere Speisekammer war wieder voll – vorbei die Zeiten, als wir hungrig vom Tisch aufstanden und über Magenknurren stöhnten. Man sollte meinen, diese Wende hätte uns zu ewigem Dank verpflichtet, aber tatsächlich war es für uns schon bald eine Selbstverständlichkeit. Nach zehn Tagen kam es uns völlig normal vor, dass wir satt zu essen hatten, und am Ende des Monats konnten wir uns kaum noch an die Zeit erinnern, als es nicht so gewesen war. So ist das mit dem Mangel. Solange einem was fehlt, sehnt man sich ohne Unterlass danach. Wenn ich nur dieses eine haben könnte, sagt man sich, wären alle meine Probleme gelöst. Aber sobald man es hat, sobald einem das Ersehnte in die Hand gedrückt wird, beginnt es seinen Reiz zu verlieren. Andere Bedürfnisse melden sich, andere Wünsche machen sich geltend, und allmählich geht einem auf, dass man wieder da ist, wo man angefangen hat. So war es mit meinem Leseunterricht; so war es mit der neuen Fülle in den Küchenschränken. Ich hatte gedacht, damit würde nun
Weitere Kostenlose Bücher