Mr. Vertigo
alles anders, aber am Ende erwiesen sich diese Dinge als bloße Schatten, als Ersatz für meinen einzigen wahren Wunsch – und genau der war eben nicht erfüllbar. Mir fehlte die Liebe des Meisters. Das war es, worauf in diesen Monaten alles hinauslief. Ich schmachtete nach der Zuwendung des Meisters, und über diese Entbehrung konnte mich auch ein Berg Essen nicht hinwegtrösten. Nach zwei Jahren wusste ich, dass alles, was ich war, direkt von ihm ausging. Er hatte mich nach seinem Bilde geschaffen, und nun war er nicht mehr für mich da. Aus Gründen, die ich nicht begreifen konnte, glaubte ich ihn für immer verloren zu haben.
Mrs. Witherspoon ist mir bei alldem nie in den Sinn gekommen. Nicht mal, als Mutter Sioux eines Abends eine Bemerkung über des Meisters «Witwe» in Wichita fallenließ, konnte ich zwei und zwei zusammenzählen. In der Beziehung war ich zurückgeblieben, ein elfjähriger Besserwisser, der von dem, was sich zwischen Männern und Frauen abspielt, nicht den leisesten Schimmer hatte. Für mich war das was rein Fleischliches, ein periodisches Aufwallen sinnlicher Begierde, und als Äsop mal davon sprach, er habe Lust, seinen Schwengel in eine hübsche warme Muschi zu schieben (er war grade siebzehn geworden), fielen mir sofort die Huren von Saint Louis ein, diese verschlampten, sprücheklopfenden Miezen, die um zwei Uhr morgens in den Seitenstraßen auf und ab stolzierten und ihren Körper gegen hartes Bargeld verhökerten. Von Liebe unter Erwachsenen, von der Ehe oder irgendwelchen anderen sogenannten erhabenen Gefühlen hatte ich keine Ahnung. Das einzige Ehepaar, das ich kannte, waren Onkel Slim und Tante Peg, und die beiden waren ein so scheußliches Gespann gewesen, ein so geiferndes Gespann voller Flüche und Schimpftiraden, dass meine Ahnungslosigkeit einigermaßen erklärlich war. Wenn der Meister fortging, nahm ich an, dass er irgendwo Poker spielte oder sich in einer Flüsterkneipe in Cibola eine Flasche Fusel hinter die Binde kippte. Nie wäre ich drauf gekommen, dass er in Wichita einer vornehmen Dame wie Mrs. Witherspoon den Hof machte – und sich dabei nach und nach das Herz brechen ließ. Ich hatte sie ja selbst gesehen, aber damals war ich so krank und vom Fieber geschwächt gewesen, dass ich mich kaum noch an sie erinnern konnte. Sie war eine Halluzination, ein Wahngebilde aus meinem Kampf mit dem Tod, und obwohl ihr Gesicht hin und wieder vor mir auftauchte, hielt ich sie nicht für wirklich. Allenfalls hielt ich sie für meine Mutter – und das wiederum versetzte mich in Angst und Schrecken, weil ich nicht mal den Geist meiner eigenen Mutter richtig erkennen konnte.
Erst ein paar kleinere Katastrophen setzten mir den Kopf zurecht. Anfang Dezember schnitt sich Äsop beim Öffnen einer Dose Pfirsiche in den Finger. Zunächst schien es nicht weiter schlimm, bloß ein Kratzer, der bald wieder verheilt sein würde, doch statt wie üblich zu verschorfen, schwoll die Wunde zu einer furchtbaren Eiterbeule an, bis sich der Ärmste am dritten Tag mit hohem Fieber ins Bett legen musste. Zum Glück war Meister Yehudi zu der Zeit im Haus, denn neben seinen anderen Talenten verfügte er auch über erhebliche medizinische Kenntnisse; am nächsten Morgen betrat er Äsops Zimmer, um nach dem Befinden des Patienten zu sehen, kam aber schon nach zwei Minuten wieder raus; er schüttelte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. «Wir dürfen keine Zeit verlieren», sagte er zu mir. «Der Wundbrand hat eingesetzt, und wenn wir ihm den Finger nicht augenblicklich abnehmen, wird er sich durch die Hand bis in den Arm ausbreiten. Lauf nach draußen und sag Mutter Sioux, sie soll alles stehen- und liegenlassen und zwei Töpfe Wasser aufsetzen. Ich gehe jetzt in die Küche und schleife die Messer. Wir müssen innerhalb einer Stunde operieren.»
Ich gehorchte und holte Mutter Sioux vom Hof; dann rannte ich ins Haus zurück, sprang die Treppe zum ersten Stock hinauf und postierte mich neben meinem Freund. Äsop sah entsetzlich aus. Seine glänzend schwarze Haut war stumpf und fleckig grau, ich hörte den Schleim in seiner Lunge rasseln, und sein Kopf rollte auf dem Kissen hin und her.
«Halt durch, Junge», sagte ich. «Es dauert nicht mehr lang. Der Meister bringt dich in Ordnung, und eh du dich’s versiehst, hockst du wieder unten an der Klimperkiste und spielst deine bescheuerten Rags.»
«Walt?», sagte er. «Bist du das, Walt?» Er schlug die blutunterlaufenen Augen auf und richtete sie
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