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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Nachdenken mehr erforderte. Das Schwingen war eine ausbaufähige Kunst, ein traumhaftes Gehen in der Luft, das sich im Grunde kaum vom Gehen auf festem Boden unterschied, und genau wie ein Kleinkind strauchelt und fällt, wenn es die ersten Schritte macht, geriet auch ich zu Beginn meiner Flugversuche ziemlich oft ins Stolpern und zu Fall. Entscheidend dabei war die Dauer, die Frage, wie lange und wie weit ich mich bewegen konnte. Die ersten Ergebnisse fielen sehr verschieden aus, zwischen drei und fünfzehn Sekunden, und da die Geschwindigkeit, mit der ich mich bewegte, quälend langsam war, schaffte ich bestenfalls zwei bis drei Meter, nicht mal die Strecke von einer Wand meines Zimmers zur anderen. Das war kein elegantes, forsches Ausschreiten, sondern eher ein schlurfender Gespenstergang, vergleichbar mit der Art, wie ein Seiltänzer sich auf dem Hochseil fortbewegt. Aber das alte Ohnmachtsgefühl war wie weggeblasen, und ich arbeitete zuversichtlich weiter. Nichts konnte mich jetzt noch aufhalten, so klein meine Fortschritte sein mochten. Obwohl ich noch immer nicht höher als meine üblichen ein bis zwei Handbreit aufstieg, hielt ich es für das Beste, mich zunächst aufs Schwingen zu konzentrieren. Wenn ich auf dem Gebiet einigermaßen sicher war, konnte ich mich wieder dem Schweben zuwenden. Den Plan fand ich vernünftig, und selbst wenn ich noch mal ganz von vorne anfangen müsste, würde ich nicht davon abweichen. Wie konnte ich wissen, dass die Zeit bereits knapp wurde, dass uns weniger Tage blieben, als wir alle geahnt hatten?
    Als Meister Yehudi und Äsop zurückgekommen waren, ging es im Haus so hoch her wie noch nie. Eine Ära war zu Ende, und nun blickten wir alle in die Zukunft und freuten uns auf das neue Leben, das uns jenseits der Grenzen unserer Farm erwartete. Äsop sollte als erster gehen – im September, nach Yale –, aber wenn alles nach Plan lief, würden auch wir anderen gegen Neujahr die Farm verlassen. Jetzt, wo ich die nächste Stufe meiner Ausbildung erreicht hatte, nahm der Meister an, dass ich in ungefähr neun Monaten öffentlich auftreten könnte. Das war noch immer ein weiter Weg für jemand in meinem Alter, aber wenn er jetzt davon sprach, hörte es sich realistisch an; besonders mit Ausdrücken wie Engagements, Veranstaltungsorte und Vorverkauf versetzte er mich in permanente Aufregung. Nun war ich nicht mehr Walt Rawley, der schäbige weiße Niemand, der nicht mal einen Pisspott sein Eigen nannte, sondern ich war Walt der Wunderknabe, der kleine Teufelskerl, der den Gesetzen der Schwerkraft trotzte, der einzig wahre Herr der Lüfte. Wenn wir erst aufbrachen und der Welt meine Kunststücke vorführten, würde ich ein Aufsehen erregen, wie Amerika es noch nicht erlebt hatte.
    Äsops Reise in den Osten war ein voller Erfolg gewesen. Man hatte ihn speziellen Prüfungen unterzogen, man hatte Gespräche mit ihm geführt, man hatte den Inhalt seines wolligen Schädels examiniert, und wenn man dem Meister glauben konnte, hatte es ihnen allen die Sprache verschlagen. Kein einziges College hatte ihn abgelehnt, aber Yale bot ihm ein vierjähriges Stipendium an – samt Verpflegung, Unterkunft und einem kleinen Taschengeld –, und das hatte schließlich den Ausschlag gegeben. Hipp, hipp, hurra, Bullenbeißer aller Länder, vereinigt euch. Wenn ich heute daran denke, wird mir klar, was für eine Leistung es für einen jungen schwarzen Autodidakten war, die Festungsmauern dieser kaltherzigen Institutionen zu erklimmen. Ich hatte ja von Büchern keine Ahnung, mir fehlte jeder Maßstab, die Fähigkeiten meines Freundes mit denen anderer Leute zu vergleichen, aber dass er ein Genie war, glaubte ich unbesehen, und die Vorstellung, dass diese Sauertöpfe und Wichtigtuer von Yale ihn als Schüler aufnehmen wollten, schien mir die natürlichste Sache der Welt zu sein.
    Wenn ich damals auch zu blöd war, die Bedeutung von Äsops Triumph zu erkennen, so blieb mir doch die Spucke weg, als ich die neuen Klamotten sah, die er von seiner Reise mitbrachte. Bei der Rückkehr trug er einen Waschbärmantel und eine runde blau-weiße Mütze, und in diesem Aufzug sah er so seltsam aus, dass ich mir, als er zur Tür reinkam, das Lachen nicht verbeißen konnte. Der Meister hatte ihm in Boston zwei braune Tweedanzüge anpassen lassen, und die trug er nun im Haus anstelle seiner alten Farmklamotten; dazu ein weißes Hemd mit steifem Kragen und Krawatte und glänzende, dungfarbene Schnürstiefel. Äußerst

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