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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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eindrucksvoll, wie er sich in diesen Sachen bewegte – als ob sie ihn aufrichteten, ihm mehr Würde und ein größeres Bewusstsein seiner Bedeutung verliehen. Obwohl er es noch gar nicht nötig hatte, rasierte er sich nun jeden Morgen, und ich leistete ihm in der Küche Gesellschaft und hielt ihm den kleinen Spiegel, während er sich die Visage einschäumte, das Rasiermesser in den eiskalten Eimer tauchte und mir von den Sachen erzählte, die er in den großen Städten an der Atlantikküste erlebt und gesehen hatte. Der Meister hatte mehr getan, als ihn bloß aufs College zu schicken; er hatte ihm die schönste Zeit seines Lebens beschert, und Äsop erinnerte sich an jede einzelne Minute: die Höhepunkte, die Tiefpunkte und alle Punkte dazwischen. Er erzählte von Wolkenkratzern, Museen, Varietés, Restaurants und Bibliotheken, von den Bürgersteigen, auf denen es von Leuten jeder Hautfarbe wimmelte. «Kansas ist bloß ein Hirngespinst», sagte er eines Morgens, während er an seinem unsichtbaren Bart herumschabte, «eine Haltestelle auf dem Weg in die Wirklichkeit.»
    «Das brauchst du mir nicht zu erzählen», sagte ich. «Dieses Kaff ist so rückständig, dass sie hier schon den Alkohol verboten haben, bevor man im Rest des Landes überhaupt was von der Prohibition wusste.»
    «In New York habe ich Bier getrunken, Walt.»
    «Hab ich mir’s doch gedacht.»
    «In einem Speakeasy. So ein illegaler Laden in der MacDougal Street, mitten im Greenwich Village. Hätte dich gern mit dabeigehabt.»
    «Ich kann dieses Schaumzeug nicht ausstehen, Äsop. Aber wenn du mir einen ordentlichen Bourbon hinstellst, trink ich jeden unter den Tisch.»
    «Ich sage ja nicht, dass es mir geschmeckt hat. Aber es war schon aufregend, in so einem vollen Lokal mit all diesen Leuten ein Bier zu kippen.»
    «Ich wette, das war nicht die einzige aufregende Sache, die du gemacht hast.»
    «Das kannst du laut sagen. Nur eine von vielen.»
    «Ich wette, dein kleiner Lümmel hat auch was zu tun gekriegt. Ich rate natürlich nur so, also sag mir, wenn ich mich irre.»
    Äsop unterbrach seine Rasur, wurde kurz nachdenklich und grinste dann in den Spiegel. «Sagen wir mal so: Auch das wurde nicht vernachlässigt, kleiner Bruder, und damit wollen wir’s bewenden lassen.»
    «Kannst du mir ihren Namen sagen? Ich will ja nicht aufdringlich sein, aber ich bin einfach neugierig, wie die Glückliche hieß.»
    «Wenn du’s unbedingt wissen willst, sie hieß Mabel.»
    «Mabel. Nicht übel, alles in allem. Hört sich an wie ’ne Puppe mit ordentlich Fleisch auf den Knochen. War sie alt oder jung?»
    «Weder alt noch jung. Aber mit dem Fleisch hast du richtig getippt. Mabel war die fetteste, schwärzeste Mama, die man sich nur erträumen kann. Und so riesig, dass ich gar nicht erkennen konnte, wo sie anfing und wo sie aufhörte. Als ob man mit einem Nilpferd ringen würde, Walt. Aber wenn du den Dreh einmal raus hast, besorgt die Anatomie den Rest. Du kriechst als Junge zu ihr ins Bett, und eine halbe Stunde später schreitest du als Mann von dannen.»
    Nachdem er jetzt also zum Mann geworden war, fand Äsop, die Zeit sei reif, sich hinzusetzen und seine Autobiographie zu schreiben. Damit wollte er die Monate ausfüllen, bis er von zu Hause fortmusste – die Geschichte seines bisherigen Lebens erzählen, von seiner Geburt in einer ländlichen Hütte in Georgia bis zu seiner Entjungferung in den speckigen Armen der Hure Mabel in einem Harlemer Bordell. Er schrieb und schrieb, aber der Titel machte ihm Schwierigkeiten, und ich weiß noch, wie sehr er sich darüber den Kopf zerbrach. Einmal hieß das Buch Bekenntnisse eines Negerfindlings ; tags drauf Äsops Abenteuer: Wahre Geschichte und ungeschminkte Ansichten eines Waisenkindes ; und wieder einen Tag später Der Weg nach Yale: Das Leben eines schwarzen Studenten von seinen bescheidenen Anfängen bis zur Gegenwart . Das ist bloß eine Auswahl – solange er an dem Buch arbeitete, probierte er ständig neue Titel aus und jonglierte damit herum, bis der Stapel mit Titelseiten buchstäblich genauso dick war wie das Manuskript selbst. Er muss täglich acht bis zehn Stunden an seinem Opus geschuftet haben, und ich erinnere mich, dass ich, wenn er dort gebeugt am Schreibtisch saß, öfter durch die Tür zu ihm hineinspähte und mich fragte, wie jemand so lange stillsitzen und sich mit nichts anderem beschäftigen konnte, als die Feder eines Füllers über ein weißes Blatt Papier zu führen. Es war das erste

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