Mr. Vertigo
Mal, dass ich die Entstehung eines Buchs miterlebte, und selbst wenn Äsop mich ins Zimmer rief und mir ausgewählte Passagen aus seinem Werk vorlas, fiel es mir schwer, die nötige Ruhe und Konzentration aufzubringen, um den Geschichten, die ihm über die Lippen kamen, richtig folgen zu können. Wir alle kamen in dem Buch vor – Meister Yehudi, Mutter Sioux, ich selbst –, und für mein schwerfälliges, ungeübtes Ohr war das Ganze auf dem besten Weg, ein Meisterwerk zu werden. Bei manchen Stellen lachte ich, bei anderen heulte ich, und was kann man mehr von einem Buch verlangen, als dass es einem solche Wonnen und Schmerzen bereitet? Während ich jetzt an meinem eigenen Buch schreibe, vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Äsop da oben in seinem Zimmer denken muss. Das ist fünfundsechzig Jahre her, und noch immer sehe ich ihn im Licht der Frühlingssonne, in deren Strahlen Stäubchen tanzen, am Schreibtisch sitzen und die Memoiren seiner Jugend schreiben. Wenn ich mich stark genug konzentriere, höre ich noch immer seine Atemzüge und das Kratzen der Feder auf dem Papier.
Während Äsop im Haus arbeitete, verbrachten Meister Yehudi und ich die Tage draußen auf den Feldern und plagten uns unzählige Stunden mit meiner Nummer ab. Nach seiner Rückkehr hatte er uns beim Abendessen in einer optimistischen Anwandlung verkündet, dieses Jahr würden wir nichts anpflanzen. «Zum Teufel mit dem Ackerbau», sagte er. «Für den Winter reichen unsere Vorräte noch, und wenn es dann wieder Frühling wird, sind wir längst von hier weg. Wie ich es sehe, wäre es eine Sünde, Sachen anzubauen, die wir nicht mehr brauchen werden.» Die Neuerung fand allgemeinen Beifall, und so entfiel in diesem Frühjahr die stumpfsinnige Plackerei des Pflügens, und wir brauchten nicht mehr endlose Wochen lang mit krummem Rücken durch den Matsch zu stapfen. Mit meinem Durchbruch beim Schwingen hatte sich das Blatt gewendet, und Meister Yehudi war jetzt so zuversichtlich, dass er bereit war, die Farm vor die Hunde gehen zu lassen. Es war die einzige vernünftige Entscheidung, die man fällen konnte. Wir alle hatten unser Soll erfüllt, und wozu sich demütigen, wenn wir bald in Geld schwimmen würden?
Das heißt nicht, dass wir uns – vor allem ich – da draußen nicht halb totgeschuftet hätten, aber die Arbeit machte mir Spaß, und sosehr mir der Meister auch zusetzte, aufgeben wollte ich nie. Als es dann richtig warm wurde, arbeiteten wir meist bis nach Einbruch der Dunkelheit bei Fackelschein weiter, während über der Wiese schon der Mond aufging. Ich war unermüdlich, getragen von einem Glücksgefühl, das mich von einer Herausforderung zur nächsten fortriss. Am 5. Mai hatte ich meine Flugstrecke auf zwanzig Meter ausgedehnt, keine Woche später schaffte ich schon vierzig: Ganze vierzig Meter weit schwebte ich durch die Luft, das waren knapp zehn Minuten purer Magie. Nun kam der Meister auf die Idee, mich über Wasser üben zu lassen. In der Nordostecke des Anwesens gab es einen Teich, und von da an arbeiteten wir nur noch dort; jeden Morgen nach dem Frühstück fuhren wir mit dem Pferdewagen an eine Stelle, von wo wir das Haus nicht mehr sehen konnten, und machten uns ans Werk – nur wir beide, stundenlang allein und nahezu schweigend auf den stillen Feldern. Anfangs machte mir das Wasser Angst, und da ich nicht schwimmen konnte, war es alles andere als lustig, mein Können über diesem Element zu erproben. Der Teich hatte einen Durchmesser von ungefähr zwanzig Metern, und mindestens die Hälfte davon war so tief, dass ich nicht drin stehen konnte. Am ersten Tag fiel ich fast zwanzigmal hinein, und viermal musste mir der Meister nachspringen und mich rausziehen. Danach rüsteten wir uns mit Handtüchern und Kleidern zum Wechseln aus, aber schon am Wochenende war das alles nicht mehr nötig. Ich bezwang die Angst vor dem Wasser, indem ich mir einfach vorstellte, es sei gar nicht da. Wenn ich nicht nach unten sah, konnte ich drüber hingleiten, ohne nass zu werden. So leicht war das, und in den letzten Tagen des Mai 1927 wandelte ich nicht weniger virtuos auf dem Wasser als Jesus höchstselbst.
Irgendwann um diese Zeit unternahm Lindbergh seinen ersten Alleinflug über den Atlantik, nonstop von New York nach Paris in dreiunddreißig Stunden. Wir erfuhren davon durch Mrs. Witherspoon, die eines Tages mit einem Stapel Zeitungen auf dem Rücksitz aus Wichita zu uns kam. Die Farm war von der Welt so abgeschnitten, dass wir
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