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Mr. Vertigo

Titel: Mr. Vertigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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auch die empfindliche Stelle war, aber ich war kein Fachmann in solchen Dingen und dachte nicht weiter über den Widerspruch nach. Mich interessierte bloß, dass es mir besser ging, dass der Schmerz nachließ und dass ich für die nächste Vorstellung fit war.
    Wirklich Sorgen machte mir der Zustand des Meisters – oder was immer die Ursache für den schrecklichen Anfall war, den ich im Badezimmer miterlebt hatte. Die Wahrheit ließ sich nicht mehr verbergen. Seine Maske war gefallen, aber da es ihm am nächsten Morgen wieder sehr viel besser zu gehen schien, wagte ich nicht davon anzufangen. Mir sank schlichtweg der Mut, ich brachte einfach nicht den Mund auf. Ich bin keineswegs stolz auf mein Verhalten, aber der Gedanke, dass der Meister von irgendeiner furchtbaren Krankheit geplagt wurde, war einfach zu entsetzlich. Statt voreilig finstere Schlüsse zu ziehen, ließ ich mich von seiner Version des Vorfalls beschwichtigen. Venusmuscheln, sehr witzig. Er hatte mir die ganze Zeit ein X für ein U vorgemacht, und jetzt, wo ich gesehen hatte, was ich nicht sehen sollte, setzte er alles dran, dass ich es nicht noch mal sah. In der Beziehung konnte ich mich auf ihn verlassen. Er würde die Erinnerung daran ausradieren, er würde den Unverwüstlichen spielen, und allmählich würde sich bei mir der Gedanke einschleichen, ich hätte das alles bloß phantasiert. Nicht weil ich eine solche Lüge glauben wollte – sondern weil ich zu große Angst hatte, es nicht zu tun.
    Von New Haven fuhren wir nach Providence; von Providence nach Boston; von Boston nach Albany; von Albany nach Syracuse; von Syracuse nach Buffalo. Ich erinnere mich an all diese Städte, all diese Theater und Hotels, all die Vorstellungen, die ich dort gab, ich weiß das alles noch ganz genau. Es war Spätsommer, Frühherbst. Nach und nach verloren die Bäume ihr Grün. Die Welt wurde rot und gelb, orange und braun, an allen Straßen war das seltsame Schauspiel dieser Verfärbung zu sehen. Der Meister und ich waren jetzt richtig in Fahrt, nichts schien uns noch aufhalten zu können. Ich trat in jeder Stadt vor vollen Häusern auf. Meine Shows waren mehr als ausverkauft, jeden Abend mussten an den Kassen Hunderte wieder nach Hause geschickt werden. Die Schwarzhändler sahnten groß ab, verhökerten Eintrittskarten zum Drei-, Vier- und Fünffachen des Schalterpreises, und vor jedem neuen Hotel, bei dem wir vorfuhren, erwarteten uns Scharen von Fans, die stundenlang in Frost und Regen standen, nur um einen Blick auf mich zu erhaschen.
    Die Kollegen, die mit mir auftraten, waren sicher ein bisschen neidisch, aber in Wahrheit hatten sie es noch nie so gut gehabt. Wenn die Massen herbeiströmten, um mich zu sehen, sahen sie auch die anderen, und so profitierten wir alle davon. Während dieser Wochen und Monate war ich die Hauptattraktion bei den verschiedensten Kuriositätenshows. Komiker, Jongleure, Falsettsänger, Vogelstimmenimitatoren, Liliputaner-Jazzbands, tanzende Affen – sie alle machten ihre Sprünge und Kapriolen, und dann kam ich. Ich sah mir diese leicht hirnrissigen Darbietungen gerne an und bemühte mich hinter den Kulissen um die Freundschaft aller, die einen freundlichen Eindruck machten. Leider war der Meister nicht allzu begeistert von meinem vertraulichen Umgang mit den Kollegen. Er gab sich meist distanziert und drängte mich, seinem Beispiel zu folgen. «Du bist der Star», flüsterte er. «Also benimm dich auch so. Du brauchst diese Typen nicht mal zu grüßen.» Das war ein kleiner Zankapfel zwischen uns, aber da ich offensichtlich noch viele Jahre in diesen Kreisen verkehren würde, schien es mir nicht sonderlich zweckmäßig, mir unnötig Feinde zu machen. Doch der Meister hatte ohne mein Wissen seine eigenen Pläne für unsere Zukunft ausgeheckt, und schon gegen Ende September sprach er laut von einer Ein-Mann-Tournee im nächsten Frühjahr. So war das nun mal mit Meister Yehudi: Je besser es für uns lief, desto höher steckte er seine Ziele. Die gegenwärtige Tournee ging noch bis Weihnachten, aber er konnte es sich nicht verkneifen, schon an die nächste, noch spektakulärere Unternehmung zu denken. Als er zum ersten Mal davon sprach, musste ich schlucken, so tollkühn kam mir die Sache vor. Sein Plan sah so aus, dass wir von Westen nach Osten reisen und in den zehn oder zwölf größten Städten zwischen San Francisco und New York besondere Galavorstellungen geben sollten. Wir würden große Hallen und Sportstadien wie den

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